Exakt 7.769.256 Mal schliefen Menschen im Juli 2020 in Zelten, Hütten oder Campingwagen – nicht als Wohnungslose unter Brücken, an Straßen oder in Parks, sondern als Touristen auf offiziellen Campingplätzen. Über das Gast- und Beherbergungsgewerbe in Deutschland gibt es sehr ausführliche und genaue Daten, die der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband publiziert. Ähnlich verhält es sich mit vielen anderen Bereichen. Wie viele Menschen in Deutschland akut wohnungslos sind, wissen wir hingegen nicht. Das weiß bislang niemand. Seit über 30 Jahren kann die BAG W zwar mit ihrem Dokumentationssystem zur Wohnungslosigkeit (DzW) fundierte Aussagen über die Lebenslagen der Menschen in Wohnungsnot tätigen, aber das genaue Ausmaß der Menschen ohne eine mietvertraglich abgesicherte Wohnung kann nur geschätzt werden.
In den vergangenen Jahren zeigte sich zunehmend der Bedarf nach belastbaren Daten zu Wohnungslosigkeit. Inzwischen gibt es eine Vielzahl quantitativer Erhebungen: Wohnungslosenberichterstattungen verschiedener Bundesländer, LIGA-Stichtagserhebungen, Obdachlosenzählungen, Schätzungen, Unterbringungserhebungen auf kommunaler Ebene, Daten von Verbänden, Trägern, Hilfe-Einrichtungen, medizinischen Projekten oder städtischen Initiativen, oder solche Daten, die im Rahmen von studentischen Arbeiten und universitärer Forschung zusammengetragen werden. Diese Vielfalt an Daten ist einerseits sehr erfreulich – so erhellt sie nicht nur ein lange ignoriertes Dunkelfeld, sondern verdeutlicht auch das gesellschaftlich geschärfte Problembewusstsein für Wohnungslosigkeit. Zuvor nur gefühlte Trends können nun mit Zahlen untermauert und politische Forderungen empirisch unterfüttert werden. Andererseits ist diese Datenvielfalt inzwischen nur schwer vollständig überschaubar und die Zahlen selbst sind strenggenommen nur bedingt miteinander vergleichbar: Unterschiedliche Erhebungsdesigns, Fragen, Zielgruppendefinitionen, Erfassungszeiträume und Gebietseinheiten erzeugen einen regelrechten Daten-Flickenteppich.
Umso gespannter blicken wir nun auf den sich anbahnenden Umbruch, der mit der Statistik untergebrachter wohnungsloser Personen zur bundeseinheitlichen Erfassung bevorsteht. Seit Jahrzehnten forderte die BAG W eine solche Bundesstatistik vergeblich. Am 31.01.2022 werden nun erstmals (und anschließend jährlich) Daten bei freien Trägern und kommunalen Unterkünften erhoben und dem Statistischen Bundesamt übermittelt – ein statistischer Meilenstein.
Dieser Umstand hat uns dazu bewogen, nach zwei erfolgreichen Dokumentations-Fachtagungen in einem Jahr (Dokumentation und Statistik 2021 und 2020) auch den Schwerpunktteil dieser Ausgabe der wohnungslos dem Thema Dokumentation und Statistik in der Wohnungslosenhilfe zu widmen. Andreas Zimmermann zeigt darin auf, welche Bedeutung und Vorteile eine gute Dokumentation der geleisteten Hilfen für den Kostenträger hat, und bezieht dabei Stellung für das DzW als Erhebungsinstrument. Jutta Henke präsentiert die aktuellen Erhebungen der GISS, mit denen die Gruppe der nicht-institutionell untergebrachten Wohnungslosen ermittelt werden. Wie das mit dem Kloppslied von Kurt Weill zusammenhängt, erfahren Sie ganz nebenbei auch. Thomas Specht erläutert in seinem Fachtext die Methodik der BAG W-Schätzung für 2018, legt die Änderungen gegenüber früheren Schätzungen dar und begründet, warum auch mit der Statistik untergebrachter wohnungsloser Personen auf Bundesebene weiterhin eine Schätzung notwendig sein wird.
Es ist zugegeben etwas unsicher, ob das Thema „Dokumentation und Statistik“ nicht aus Sicht vieler Praktiker:innen eher wenig „sexy“ erscheint. Sicher sind wir uns jedoch, Ihnen mit der wohnungslos 03/2021 ein informatives Heft vorzulegen, dessen Schwerpunktteil nicht nur aktuell, sondern auch politisch relevant ist. Denn auch in vielfach als postfaktisch titulierten Zeiten gilt der Slogan der letzten Dokutagung der BAG W: „Gefühlte Daten helfen nicht!“
Paul Neupert und Sarah Lotties, Fachreferent und Fachreferentin der BAG W