BAG W-Bundestagung 2022: Nationalen Aktionsplan zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit konkretisieren und auf den Weg bringen

Zwei Jahre Corona-Pandemie haben deutlich gemacht, welch hohe Relevanz die Arbeit der Einrichtungen und Dienste der Wohnungsnotfallhilfe haben und wie dringend notwendig eine Nationale Strategie zur Überwindung von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit für Deutschland ist. Die Hilfen im Wohnungsnotfall bieten als letztes Netz notwendige Unterstützung für wohnungslose Menschen.

Die Bundestagung der BAG Wohnungslosenhilfe (BAG W), die vom 2. bis 4. März in Berlin in Form einer Hybridveranstaltung stattfindet, unterstreicht die Wichtigkeit einer funktionierenden Wohnungsnotfallhilfe. Unter dem Titel (UN) BEDINGT SYSTEMRELEVANT - Gemeinsam gegen Existenznot und Wohnungslosigkeit treffen sich knapp 1.000 Teilnehmende und Mitwirkende zum politischen und fachlichen Diskurs.

Ihre Teilnahme zugesagt haben unter anderem Klara Geywitz, Bundesministerin für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, Katja Kipping, Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, Berlin, sowie Markus Lewe, Präsident des Deutschen Städtetages und Oberbürgermeister der Stadt Münster.

Ziel ist es, tragfähige Szenarien für die postpandemische Zeit zu entwerfen zur Frage: Wie kann die langfristige Ausgestaltung und Absicherung der Dienste und Einrichtungen gelingen? Es ist dringend notwendig, sie für den Krisenfall und eine gesellschaftliche Normalität zu wappnen, in der bezahlbarer Wohnraum immer knapper wird. Hierbei gilt es, die Lebensrealität der Menschen in Wohnungsnot angemessen zu berücksichtigen.

Susanne Hahmann, Vorsitzende der BAG W: „Die von der BAG W seit vielen Jahren vorgetragene Forderung nach einem Nationalen Aktionsplan ist vom Regierungsbündnis im neuen Koalitionsvertrag aufgegriffen worden. Wir haben uns darüber sehr gefreut und dies außerordentlich begrüßt. Doch jetzt ist zu klären, was sich die Bundesregierung darunter genau vorstellt, wie sie die Formulierungen mit Leben füllen will. Es müssen greifbare Maßnahmen benannt werden und es macht Sinn, an dieser Stelle auf die Erfahrungen der Wohnungslosenhilfe zurückzugreifen.“

Corona-Pandemie fordert wohnungslose Menschen und das Hilfesystem heraus

Mit der Corona-Krise hat sich die ohnehin prekäre Lebenslage wohnungsloser Menschen nochmals dramatisch verschlechtert. Der zweite Pandemie-Winter hat die Menschen in Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit ebenso wie die Mitarbeitenden des Hilfesystems erneut vor enorme Herausforderungen gestellt. Um ihre Angebote dennoch weitgehend aufrechterhalten zu können, arbeiten die Dienste und Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe unter größten personellen und finanziellen Anstrengungen.

Laut einer Befragung, die die BAG W im vergangenen Herbst bei ihren Mitgliedern durchführte, haben knapp 20 Prozent der Hilfeangebote ihr Angebot einschränken müssen. Davon betroffen sind besonders die niedrigschwelligen Tagesaufenthalte (knapp 50 Prozent), aber auch Angebote der Kältenothilfe fahren nicht mit voller Last. 15 Prozent der Einrichtungen melden ein eingeschränktes Angebot.

Beratungsstellen versuchen, ihre Hilfe auch auf telefonischem Wege bzw. online anzubieten. Der Bedarf an diesen Leistungen steigt. An vielen Stellen wird improvisiert, um möglichst jeder und jedem ein sicheres Übernachtungsangebot machen zu können, auch wenn es an zusätzlichen Räumlichkeiten mangelt. Zwischen umfangreichen Infektionsschutzmaßnahmen und dem Bemühen, eine niedrigschwellige Versorgung der Hilfesuchenden zu gewährleisten, setzen sich die Mitarbeitenden selbst hohen Infektionsrisiken aus.

Wegen Behördenschließungen haben Betroffene Schwierigkeiten, ihren ALG II-Tagessatz zu erhalten oder dringend benötigte Ausweispapiere zu beantragen, die aber wiederum Voraussetzung zur Beantragung von Sozialleistungen sind. An dieser Stelle fangen die Dienste und Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfen in weiten Teilen auf, was Behörden nicht mehr leisten - weil diese für die wohnungslosen Menschen nicht direkt, sondern nur noch digital ansprechbar sind.

Die im Zuge der Pandemie zusätzlich entstehenden Kosten der Digitalisierung, der Testungen, der Schutz- und Hygienemaßnahmen sowie die fehlenden Einnahmen durch nicht belegbare Wohnplätze etc. muss das Hilfesystem durch Spendenmittel finanzieren oder gänzlich durch eigene Mittel. Bund, Länder, Kommunen, Kosten- und Leistungsträger beteiligen sich bisher nur etwa zu einem Drittel. Auch das ein Ergebnis der Befragung.

Viele wohnungslose Menschen, die ganz ohne Unterkunft auf der Straße oder in Sammelunterkünften leben, gehören zu einer gesundheitlich hoch belasteten Bevölkerungsgruppe, d.h. zur Corona-Risikogruppe. Ohne Schutz in den eigenen vier Wänden können sie weder soziale Kontakte reduzieren noch notwendige Hygienemaßnahmen einhalten. Um sich impfen zu lassen und über den Nachweis eines Boosters zu verfügen, benötigen sie niedrigschwellige Anlaufstellen.

Am wirkungsvollsten erwies sich bisher die Arbeit mobiler Impfteams, die die Menschen in Einrichtungen und auf öffentlichen Plätzen aufsuchen und die Impfungen ohne Terminvergabe und Wartezeiten (und ohne Vorlage von Ausweisdokumenten) vornehmen. Sowohl für Testungen als auch für Impfungen ist es erforderlich, entsprechende Angebote in den Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe sowie mobil machen zu können. Die Finanzierung dieser Angebote muss sichergestellt sein.

In der gegenwärtigen Krise ist es nicht verantwortbar, Zwangsräumungen von Wohnungen vorzunehmen. Mietschulden entstehen nicht erst durch den Verdienstausfall in der Corona-Krise. Menschen dürfen in dieser Situation nicht aus ihren Wohnungen geräumt und in Notunterkünfte eingewiesen werden, die schon jetzt überfordert sind und in denen eine Kontaktreduzierung nicht möglich ist.

Wohnungsnotfallhilfe als Teil der kritischen Infrastruktur

Spätestens angesichts der Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre ist es geboten, die Hilfen im Wohnungsnotfall explizit der systemrelevanten kritischen Infrastruktur zuzuordnen.

Eckpunkte eines Nationalen Aktionsplans

Wohnungen für Wohnungslose

Es müssen bezahlbarer Wohnraum geschaffen und zugleich Mechanismen entwickelt werden, um auch wohnungslosen Menschen den Zugang zur eigenen Wohnung zu ermöglichen, etwa durch eine Quote von Wohnungen, die explizit wohnungslosen Haushalten zur Verfügung stehen.

Es ist eine soziale Wohnungspolitik gefordert, die sich als Daseinsvorsorge begreift. Die 100.000 geplanten Sozialwohnungen pro Jahr können den Mangel an bezahlbaren Wohnungen nicht genügend ausgleichen. Wichtig ist eine dauerhafte Sozialbindung. Zusätzlich werden weitere 100.000 bezahlbare Wohnungen benötigt.

Werena Rosenke, Geschäftsführerin der BAG W: „Wohnraum kann auch durch die gezielte Akquirierung von Wohnungsbeständen bei privaten Vermietern und der Wohnungswirtschaft geschaffen werden. Sogenannte Gewährleistungsverträge zwischen Kommunen und Vermietern und andere positive Anreize zur Vermietung an wohnungslose Haushalte sind bereits erfolgreich in der Praxis erprobt. Sie müssten aber flächendeckend umgesetzt werden.

Eine weitere Möglichkeit, die die BAG W schon seit vielen Jahren fordert, ist, sogenannte Schlichtwohnungen und Notunterkünfte zu sanieren, in Sozialwohnungen umzuwandeln und wohnungslose Haushalte somit in den allgemeinen Sozialwohnungsbestand zu integrieren.

Zusätzliche Wohnungen für Wohnungslose lassen sich auch dadurch erschließen, dass die Richtwerte für die Kosten der Unterkunft (KdU) bei wohnungslosen Haushalten deutlich überschritten werden können. Dies sollte bei dem im Koalitionsvertrag angesprochenen verbesserten gesetzlichen Rahmen für die Anwendung der kommunalen Angemessenheitsgrenzen berücksichtigt werden.“

Es braucht massive Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen. Gezielte Maßnahmen könnten durch entsprechende Förderprogramme des Bundes und der Bundesländer flankiert werden.

Prävention

Es müssen alle möglichen Maßnahmen zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit ergriffen werden. Insbesondere in Zeiten fehlenden bezahlbaren Wohnraums sind Präventionsanstrengungen unverzichtbar: Wer in dieser Situation die Wohnung verliert, wird für lange Zeit ohne eigene Wohnung bleiben und die verlorene Wohnung wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch als bezahlbarer Wohnraum abzuschreiben sein.

Darum sind die Präventionsangebote finanziell auf sichere Beine zu stellen und langfristig zu gewährleisten. In jede Kommune und jeden Landkreis gehört eine Fachstelle zur Verhinderung von Wohnungsverlusten. Der Aufbau effizienter Präventionsstrukturen sollte dringend durch entsprechende Förderprogramme des Bundes unterstützt werden.

Menschenwürdige Unterbringung

Wenn trotz aller Bemühungen ein Wohnungsverlust nicht verhindert werden kann, müssen in ausreichender Zahl menschenwürdige ordnungsrechtliche Unterbringungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.

Die Unterbringung muss unabhängig von sozialhilferechtlichen Ansprüchen, Staatsangehörigkeit und aufenthaltsrechtlichem Status erfolgen. Es müssen außerdem Leitlinien (inklusive Prinzipien und Mindeststandards) entwickelt werden, die eine menschenwürdige und rechtssichere ordnungsrechtliche Unterbringung garantieren. Durch beratende Angebote muss eine zügige Vermittlung von der ordnungsrechtlichen Unterbringung in eine eigene Wohnung und/ oder zu weiterführenden Hilfen ermöglicht werden.

Medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen

Es ist dringend notwendig, die medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen sicherzustellen, zum Beispiel durch einen Fonds auf Bundesebene zur Finanzierung medizinischer Versorgungsprojekte und einen erneuten Erlass von Beitragsschulden in der Krankenversicherung (Beitragsschuldengesetz). Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist für alle Menschen zu sichern, egal, woher sie stammen.

Persönliche soziale Hilfen

Menschen in Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit brauchen soziale Hilfen - in einer individuell passenden Hilfeumgebung.

Die Ausstattung und Finanzierung niedrigschwelliger Versorgungsangebote sind grundlegend zu verbessern. Die Dienste und Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe müssen wirtschaftlich abgesichert sein. Bei Bedarf müssen für sie auch zusätzliche Mittel von Kommunen, Bundesländern und Bund unbürokratisch zur Verfügung stehen.

Werena Rosenke: „Es lassen sich darüber hinaus weitere Handlungsfelder benennen, die Teil einer Nationalen Strategie sein sollten. Wenn die Wohnungslosigkeit bis 2030 in unserem Land überwunden werden soll, drängt die Zeit. Bund, Länder und Kommunen müssen hier an einem Strang ziehen. Die Politik ist in der Lage, weitreichende Verbesserungen herbeizuführen – egal, ob wir über den Wohnungsneubau sprechen, die Neugestaltung rechtlicher Rahmenbedingungen oder die Bereitstellung und langfristige Zusicherung finanzieller Mittel.

Bei der konkreten Ausgestaltung der nächsten politischen Schritte bieten wir den Entscheidern unsere Expertise an. Wir wissen, was hilft und wirklich bei den Menschen ankommt. Dazu möchten wir ins Gespräch kommen!“

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