Wohnungsloser Mann in Genthin (Sachsen-Anhalt) erfroren – Kältehilfe in Deutschland muss dringend ausgebaut und verbessert werden
Berlin, 21.11.2014. Ein 43-jähriger wohnungsloser Mann ist in Genthin (Sachsen-Anhalt) letzte Woche, am 13.11.2014, von einem Spaziergänger erfroren aufgefunden worden. Nach Auskunft der Polizei war er gesundheitlich angeschlagen und ist laut Obduktionsergebnis an Unterkühlung verstorben.
Angesichts des nahenden Winters 2014/2015 und deutlich steigender Wohnungslosenzahlen fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W), der Dachverband der Wohnungslosenhilfe in Deutschland, dringend den Ausbau und die Verbesserung der Kältehilfe und Notunterbringung in Deutschland.
Im letzten Winter 2013/2014 sind nach Kenntnis der BAG W mindestens fünf wohnungslose Menschen in Deutschland erfroren, in den letzten 23 Jahren (seit 1991) waren sogar mindestens 283 Kältetote unter Wohnungslosen zu beklagen. Sie erfroren im Freien, unter Brücken, auf Parkbänken, in Hauseingängen, in Abrisshäusern, in scheinbar sicheren Gartenlauben und sonstigen Unterständen. Durch die Kälte besonders bedroht sind die ca. 24.000 Wohnungslosen, die ganz ohne Unterkunft auf der Straße leben.
Die Programme zur Kältehilfe und die Notunterbringung sind in den letzten Jahren vielerorts an ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen. Durch schnell geschaffene Notunterkünfte haben sich die Bedingungen der Unterbringung teilweise deutlich verschlechtert. Dies gilt für große Städte genauso wie für ländliche Regionen. Jede Kommune in Deutschland muss Wohnungslose unterbringen, und zwar in menschenwürdiger Weise, mit ausreichenden Plätzen und unabhängig von Herkunft und Nationalität. Städte und Gemeinden verstoßen gegen ihre Amtspflichten, wenn sie nicht rechtzeitig Notunterkünfte bereitstellen oder verschaffen.
Laut Schätzung der BAG W ist die Zahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland von 2010 bis 2012 um 15% auf 284.000 Personen gestiegen. Bis 2016 prognostiziert die BAG W sogar einen weiteren Anstieg der Wohnungslosigkeit um ca. 30% auf dann 380.000 Menschen. Daher werden auch entsprechend mehr Wohnungslose auf der Straße leben als in den Jahren zuvor. Da es für Deutschland keine öffentliche Statistik zur Wohnungslosigkeit gibt, muss die BAG W die Zahl der Wohnungslosen schätzen.
Unter dem Titel „Den Kältetod von Wohnungslosen verhindern!“ hat die BAG W bereits vor drei Jahren eine Handreichung erstellt, in der die rechtlichen Grundlagen der staatlichen Schutzpflichten zusammenfassend dargestellt und Eckpunkte für Maßnahmen zum Erfrierungsschutz benannt werden. Mit dieser Handreichung fordert die BAG W die Städte und Gemeinden auf, verstärkt zu prüfen, ob sie ihrer Verpflichtung nachkommen und ob die getroffenen Vorkehrungen in Quantität und Qualität ausreichend sind. Die BAG W setzt dabei auch auf eine Kooperation zwischen den Kommunen und den freien Trägern der Wohnungslosenhilfe.
Nach Erfahrung der Wohnungslosenhilfe wird ein Teil der Betroffenen von den Angeboten nicht erreicht. Viele sind physisch und psychisch nicht in der Verfassung, sich in Massenunterkünften zu behaupten und sich ggf. gegen Übergriffe und Auseinandersetzungen durchzusetzen. Viele Angebote sind zu weit abgelegen und werden deswegen nicht erreicht, sind zu früh überfüllt, bieten keine Aufenthaltserlaubnis tagsüber und keine sichere Aufbewahrung der Habseligkeiten.
Die BAG Wohnungslosenhilfe bekräftigt deswegen ihre Appelle und Forderungen an die Kommunen:
- Straßensozialarbeit und andere Formen aufsuchender Arbeit auf- oder ausbauen, um von Kälte bedrohte Wohnungslose auf der Straße aufsuchen zu können
- Notrufnummern einrichten oder den Notruf 110 propagieren, damit Bürgerinnen und Bürger gefährdete Menschen melden können
- Mindestmaß an Privatsphäre und Selbstbestimmung in der Unterbringung ermöglichen
- Schutz und Sicherheit vor Diebstahl und Gewalt in den Unterkünften gewährleisten
- Für wohnungslose Frauen muss eine separate und sichere Unterbringung ermöglicht werden
- Dezentrale Unterbringungsmöglichkeiten für kleinere Gruppen von Wohnungslosen (auch mit Hunden)
- Großzügige Öffnungszeiten der Unterkünfte, d.h. nachts und auch tagsüber
- Keine Befristung des Aufenthaltes auf wenige Tage
- Öffnung von U-Bahnstationen, Bahnhöfen und anderen geeigneten öffentlichen Gebäuden
- Ausreichend viele niedrigschwellige Tagesaufenthalte
- Notfalls zusätzliche Anmietung von geeigneten Räumlichkeiten (bspw. leerstehende Gewerbe-Immobilien, die beheizbar sind und über sanitäre Einrichtungen verfügen)
An die Bürgerinnen und Bürger appelliert die BAG Wohnungslosenhilfe eindringlich:
„Seien Sie aufmerksam! Wenn Sie wohnungslose Menschen sehen, die hilflos oder in einer Notsituation sind, setzen Sie die Polizei in Kenntnis, wählen Sie den Notruf 110! Alarmieren Sie bei akuter gesundheitlicher Gefährdung den Rettungsdienst 112!“
POS_11_Handreichung_Kaeltetod_verhindern.pdf