Bilanz nach zehn Jahren: Medizinische Hilfen für Wohnungslose wichtiger denn je
Arbeitsgemeinschaft der medizinischen Versorgung Wohnungsloser kritisiert Darstellung der Gesundheitspolitik der Bundesregierung im Armuts- und Reichtumsbericht
Bremen/Bielefeld, 12.06.2008. „Die niedrigschwellige medizinische Versorgung wohnungsloser Patientinnen und Patienten ist inzwischen unverzichtbar, denn von einer „nachhaltigen Gesundheits- und Pflegepolitik“ für alle – so wie im Armuts- und Reichtumsbericht von der Bundesregierung behauptet - kann keine Rede sein“, erklärte Barbara Peters-Steinwachs, Wohnungslosenärztin aus München und eine der Sprecherinnen der Arbeitsgemeinschaft Medizinische Versorgung Wohnungsloser Menschen der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W). Vor zehn Jahren ist das bundesweite Netzwerk gegründet worden, ebenso wie der Bremer Verein zur medizinischen Versorgung Obdachloser (MVO). In Bremen beginnt heute die gemeinsame bundesweite Fachtagung „10 Jahre medizinische Versorgung Wohnungsloser – Etablierung eines Ausnahmezustandes?“
Seit Einführung des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes (GMG) im Jahr 2004 hat sich der Gesundheitszustand der wohnungslosen Männer und Frauen weiter verschlechtert. Verantwortlich dafür sind zahlreiche Regelungen des GMG: So müssen auch Wohnungslose Praxisgebühren und Zuzahlungen auf Heil- und Hilfsmittel zahlen, auch für sie entfallen die Zuschüsse zu Brillen und zahnmedizinische Behandlungen sind für Wohnungslose unbezahlbar.
Um der Ausgrenzung Wohnungsloser aus der medizinischen Versorgung entgegenzuwirken, fordert die BAG W die Wiedereinführung der Befreiung von Zuzahlungen und Praxisgebühren für Bezieher und Bezieherinnen von SGB II- und XII-Leistungen sowie eine reguläre Finanzierung der niedrigschwelligen medizinischen Projekte für Wohnungslose durch Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigungen und Kommunen, denn die Projekte können nicht auf Dauer von Spenden und dem Engagement freier Träger existieren. „Wir fordern Bundesregierung und Krankenkassen dringend auf, kurzfristig unbürokratische Härtefallregelungen vorzustellen, denn für diejenigen, die bereits in der Vergangenheit medizinisch schlecht versorgt werden konnten, ist die Hürde zum Arztbesuch nahezu unüberwindlich geworden“, sagte Barbara Peters-Steinwachs.
Niedrigschwelliges medizinisches Versorgungsangebot für Wohnungslose unverzichtbar
„Die prekäre medizinische Versorgung Wohnungsloser kann offensichtlich nur dann etwas entschärft werden, wenn es vor Ort ein niedrigschwelliges medizinisches Versorgungsangebot für Wohnungslose gibt oder die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe für ihre Klientinnen und Klienten in Vorleistung gehen - sei es durch die Übernahme von Praxisgebühren oder die Gewährung von Darlehen zur Begleichung des Eigenanteils an den Gesundheitskosten. Dies kann und wird aber für die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe keine Dauerlösung sein können, da ihnen dazu einfach die finanziellen Mittel fehlen. Darüber hinaus sind viele der medizinischen Projekte nicht dauerhaft finanziert. Sie leben von Spenden und großem Engagement“, sagte Werena Rosenke, stellv. Geschäftsführerin der BAG W.
Krankenkassen berücksichtigen Lebenssituation der Wohnungslosen nicht
In ihrem Armuts- und Reichtumsbericht weist die Bundesregierung ausdrücklich darauf hin, dass auch wohnungslose Patienten häusliche Behandlungspflege erhalten können. „In der Praxis zeigt sich aber, dass ein ambulanter Pflegebedarf nach Entlassung von den Krankenhäusern häufig nicht wahrgenommen und auch nicht organisiert wird. Darüber hinaus ist besonders schwerwiegend, dass viele Krankenkassen nach wie vor die häusliche Pflege in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe nicht finanzieren, wenn der Patient schon vorher dort untergebracht war und nicht allein zum Zwecke der Pflege (und dann auch nur für sechs Wochen) dort aufgenommen worden ist“, erklärte Corinna Genz von der „Kurve“, der Krankenwohnung der Zentralen Beratungsstelle für Wohnungslose in Hannover.
Beitragsrückstände nach Einführung der Versicherungspflicht
Seit Einführung der Versicherungspflicht am 1. April 2007 sind bei vielen Wohnungslosen Beitragsrückstände aufgelaufen, da sie von der neu eingeführten Versicherungspflicht keine Kenntnis hatten. Sie werden nun von den Krankenkassen aufgefordert die Beträge nachzuzahlen, was den Betroffenen i.d.R. nicht möglich ist. Es besteht dann nur ein eingeschränkter Versicherungsschutz. Darüber hinaus bedeuten die notwendigen Verhandlungen mit den Krankenkassen über eine Stundung oder den Erlass der Beiträge einen erheblichen Aufwand für die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. Geholfen werden kann aber ohnehin nur den Betroffenen, die Kontakt zu einer Beratungsstelle aufnehmen.
„Die sog. Reformen der letzten Jahre haben nicht nur den Zugang zur Gesundheitsversorgung für Wohnungslose weiter erschwert, sondern führen geradewegs in eine Zwei-Klassenmedizin: Eine immer größer werdende Zahl armer, aber nicht unbedingt wohnungsloser Patientinnen und Patienten, können sich einen normalen Arztbesuch mit Praxisgebühren oder ein kostenpflichtiges Arzneimittel aus der Apotheke nicht mehr leisten. Die Bundesregierung kann und darf sich nicht darauf verlassen, dass diese Patienten durch Spenden und ehrenamtliches Engagement versorgt werden“, sagte Werena Rosenke.
PRM_2008_06_12_AGMED.pdf