„Der Sozialstaat gehört allen!“ Kampagne der Wohnungslosenhilfe gegen Sparpolitik auf dem Rücken von Armen und Wohnungslosen
Berlin, 23.09.2010. Mit der bundesweiten Kampagne „Der Sozialstaat gehört allen!“ protestiert die BAG Wohnungslosenhilfe gegen die Sparpolitik der Bundesregierung. In über 70 Orten weisen Großplakate auf die prekäre Situation von wohnungslosen und armen Menschen hin. Heute und in den kommenden Tagen finden in über 100 Städten Aktionen und Veranstaltungen unter dem Motto statt: „Menschen in Armut und Wohnungsnot haben ein Recht auf Wohnen, Arbeit, Gesundheit!“ Beim „Langen Tag der Wohnungslosen“, der zentralen Veranstaltung der Kampagne auf dem Alexanderplatz in Berlin, diskutiert die BAG W heute ihre Forderungen mit zahlreichen Politikern und Politikerinnen der Bundestagsfraktionen sowie mit Vertretern von Verbänden, mit Betroffenen und den Mitarbeitenden der Berliner Wohnungslosenhilfe.
Arme sind für die Bundesregierung eine sichere Bank
In Berlin erklärte Winfried Uhrig, Vorsitzender der BAG W: „Die Bundesregierung spart bei denen, die nichts haben: Wohnkosten für ALG II-Bezieher sollen pauschaliert werden und sich am untersten Ende der Mietspiegel orientieren. Ebenso sollen die Heizkosten pauschaliert werden. Der Heizkostenzuschuss für Wohngeldbezieher, das Elterngeld für ALG II-Bezieher, Förderprogramme der Agentur für Arbeit werden gestrichen. Für die Sparziele der Bundesregierung sind die armen Bürger und Bürgerinnen eine sichere Bank! Dabei ist die Lage gerade für diese Bevölkerungsgruppen bereits jetzt prekär: Der Bestand an bezahlbaren Sozialwohnungen ist seit Jahren rückläufig, die Mietobergrenzen für ALG II-Bezieher sind vielerorts zu niedrig angesetzt. Heizkosten werden bereits jetzt oft nicht vollständig übernommen – entgegen der höchstrichterlichen Rechtsprechung, die eine vollständige Übernahme verlangt. Das alles treibt die betroffenen Haushalte in eine Verschuldungsspirale, die letztlich zum Wohnungsverlust führen kann.“ Die Sparpolitik gegen Arme und Menschen in Wohnungsnot wird seit Monaten begleitet von Diffamierungen. „Es wird Stimmung gegen arme Bürger und Bürgerinnen gemacht: Die sog. Hartz IV-Leistungen seien zu üppig. SGB II-Beziehende sollten Sachleistungen für ihre Kinder erhalten, weil sie das Geld nicht für die Kinder, sondern nur für den eigenen Konsum ausgeben“, so Uhrig.
Keine Tricks bei der Ermittlung des neuen SGB II - Regelsatzes
Das Bundesverfassungsgericht hatte der Bundesregierung zur Auflage gemacht, die ALG IIRegelsätze aufgrund eines nachvollziehbaren Modells festzulegen. Thomas Specht, Geschäftsführer der BAG W: „Wir fordern einen SGB II-Regelsatz, der anhand eines aussagefähigen Statistikmodells ermittelt wird und die tatsächlichen Verbrauchskosten berücksichtigt. Keine Tricks bei der Ermittlung des neuen Regelsatzes! Wir befürchten, dass die Regelsätze, deren Höhe ja immer noch unter Verschluss gehalten wird, im Koalitionsausschuss nach Kassenlage und nicht nach der Bedarfslage der Betroffenen festgelegt werden.“
Wohnungslosigkeit unter jungen Menschen nimmt zu
Die Zahl der jungen Wohnungslosen unter 25 hat sichtbar zugenommen. Arbeitslose junge Erwachsene unter 25 Jahren erhalten Leistungen für Unterkunft und Heizung in einer eigenen Wohnung nach dem SGB II nur, wenn der kommunale Träger diese vor Abschluss des Mietvertrages zugesichert hat. Diese Regelung hatte der Verband der Wohnungslosenhilfe bereits vor Inkrafttreten kritisiert. Thomas Specht: „Bei vielen dieser jungen Leute ohne Job und ohne Ausbildung sind die Auszüge nicht geplant und gut vorbereitet; oft fliehen sie vor unhaltbaren häuslichen Verhältnissen oder werden von den Eltern vor die Tür gesetzt. Viele landen in außerordentlich prekären und nicht selten von Gewalt und Missbrauch geprägten Lebenssituationen. Hinzu kommt, dass die jungen ALG II Bezieher besonders hart sanktioniert werden, häufig bis zu 100%, d.h. ihnen werden auch die Zahlungen für die Kosten der Unterkunft gestrichen. Das fördert und fordert nicht die jungen Menschen, sondern befördert nur Wohnungslosigkeit und Chancenlosigkeit dieser jungen Männer und Frauen.“ Im Übrigen gebe es in keinem anderen europäischen Land solche besonders strengen Sonderregelungen für junge Erwachsene.
Gesundheitsversorgung nicht bezahlbar
Bereits jetzt ist die gesundheitliche Versorgung für viele arme Bürger nicht mehr bezahlbar. Trotz eines Einkommens, das oft unter dem Existenzminimum liegt, müssen Wohnungslose Praxisgebühren und Zuzahlungen zu Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln leisten. Ihr Gesundheitszustand ist entsprechend besonders schlecht.
Arme PatientInnen sparen an der gesundheitlichen Versorgung und riskieren damit eine Verschleppung und Chronifizierung ihrer Krankheiten, die letztlich zu steigenden Kosten im Gesundheitssystem führen können.
Forderungen
Die Wohnungslosenhilfe werde alles dafür tun, damit bis 2015 niemand mehr auf der Straße schlafen müsse. Das fordere auch das Europäische Parlament.
Winfried Uhrig:
„Wir fordern eine soziale Wohnraumförderung, damit es bezahlbaren Wohnraum gibt.
Wir lehnen die Pauschalierung der Miet- und Heizkosten ab und fordern örtliche Mietobergrenzen, die die tatsächlichen Gegebenheiten des örtlichen Wohnungsmarktes, die örtlichen Mietspiegel sowie die familiären Verhältnisse der betroffenen Haushalte berücksichtigen. Diese Obergrenzen müssen sozialräumlich differenziert werden, damit es nicht zur Ghettobildung kommt. Bei den Kosten der Unterkunft darf nicht sanktioniert werden. – Das schafft Wohnungslosigkeit!
Wir fordern einen SGB II-Regelsatz, der anhand eines aussagefähigen Statistikmodells ermittelt wird und die tatsächlichen Verbrauchskosten berücksichtigt.
Das Auszugsverbot für junge Arbeitslose ohne gut situiertes Elternhaus muss abgeschafft werden. Die jungen Frauen und Männer benötigen Perspektiven statt Wohnungslosigkeit!
Anstelle neuer Zuzahlungen und Sonderbeiträge fordern wir die Wiedereinführung der Befreiung von Zuzahlungen bei Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln, die Abschaffung der Praxisgebühren für Bezieher und Bezieherinnen von SGB II - und XII–Leistungen sowie Härtefallregelungen bei nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten und Hilfsmitteln. Gesundheitsversorgung darf kein Luxus sein!“
Eine Wohnungslosenstatistik gibt es in Deutschland nicht. Die BAG Wohnungslosenhilfe e.V. schätzt die Zahl der Wohnungslosen auf rund 230.000. Mehr als 100.000 Menschen seien von Wohnungslosigkeit bedroht. Die BAG W fordert die Einführung einer gesetzlichen Wohnungsnotfallstatistik.
Die BAG Wohnungslosenhilfe e. V. ist die Dachorganisation der Wohnungslosenhilfe in Deutschland. Ihre Mitglieder vertreten insgesamt ca. 1.200 Dienste und Einrichtungen, dazu gehören ambulante Fachberatungsstellen, Angebote des Betreuten Wohnens, stationäre Einrichtungen mit Heimen und Wohnhäusern, Projekte für junge Erwachsene, spezifische Angebote für wohnungslose Frauen, medizinische Hilfen für Wohnungslose, Betriebe und Projekte zur beruflichen und beschäftigungsbezogenen Qualifizierung und Integration.
PRM_2010_09_23_Kampagne.pdf