Diagnosebezogene Fallpauschalen in Krankenhäusern gefährden medizinische Versorgung wohnungsloser und sozial ausgegrenzter Patienten

BAG Wohnungslosenhilfe fordert Einführung eines Soziallevels

Ab Januar 2004 werden in allen Krankenhäusern verbindlich diagnosebezogene Fallpauschalen eingeführt, die das System der Tagessätze ablösen. Mit diesen Fallpauschalen soll u.a. eine Verkürzung der Liegezeiten in den Krankenhäusern erreicht werden. Dies kann aber nur mit einem funktionierenden ambulanten System nach dem Krankenhausaufenthalt gelingen. Diese und weitere Bestimmungen der Pauschalenregelung, die nicht den Lebenslagen Wohnungsloser entsprechen, werden zu einer weiteren Gefährdung des Gesundheitszustandes und einer Verschlechterung der medizinischen Versorgung wohnungsloser Patienten führen, befürchtet die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W).

Kürzere Lebenserwartung wohnungsloser Menschen

Der Gesundheitszustand wohnungsloser Menschen ist wesentlich schlechter als der der Durchschnittsbevölkerung. Studien haben erwiesen, dass wohnungslose Männer eine um zehn Jahre geringere Lebenserwartung haben. Deutlich häufiger als in der wohnenden Bevölkerung finden sich Mehrfacherkrankungen. Bei einem großen Teil der wohnungslosen Patientinnen und Patienten bestehen zusätzlich zur sozialen Situation und den zu behandelnden somatischen Erkrankungen psychische Störungen.

Es dauert oftmals lange bis ein Kontakt bei dieser Patientengruppe gebahnt ist. Auch dann muss immer erwartet werden, dass die Behandlung vorzeitig abgebrochen wird: Wohnungslose Patientinnen und Patienten haben häufig eine Geschichte schlechter – auch diskriminierender - Erfahrungen mit dem medizinischen Regelsystem.

"Das Leben auf der Straße, in Behelfs- oder Notunterkünften lässt wohnungslose Frauen und Männer die Krankheitssignale ihres Körpers überhören. Ihre Krankheitseinsicht und damit ihre Motivation zur Mitwirkung bei der medizinischen Behandlung ist in Folge nur begrenzt", erklärte Dr. Barbara Peters-Steinwachs, Wohnungslosenärztin aus München und Vorsitzende des Fachausschusses Gesundheit der BAG W.

"Ohne Wohnung ist eine medizinische Weiterbehandlung und Ausheilung nach dem Krankenhausaufenthalt kaum möglich", so Peters-Steinwachs

System der Fallpauschalen

In dem System der diagnosebezogenen Fallpauschalen wird die Lebenslage wohnungsloser und sozial ausgegrenzter oder sozial isolierter Patientinnen und Patienten nicht berücksichtigt. Dort berechnet sich das Entgelt für einen Fall aus einem definierten Basisfallpreis für die Erkrankung und einem so genannten Komorbiditäts- und Komplikationslevel. Gemeint sind damit Begleiterkrankungen und Komplikationen, die den stationären Krankheitsverlauf beeinflussen. Eine Glättungsformel wiederum verhindert, dass bei zu vielen zusätzlichen Krankheiten der errechnete Preis ins Unermessliche ansteigt. Beabsichtigt ist mit diesem Vergütungsmodell einerseits, die Vergleichbarkeit zwischen allen Kliniken bundesweit herzustellen. Andererseits soll damit aber auch eine weitere Verkürzung der Liegezeiten erreicht werden.

"Geht man von einem funktionierenden ambulanten System nach der Krankenhausentlassung aus, ist dieses Ansinnen durchaus realistisch", erklärte Dr. Frauke Ishorst-Witte, Wohnungslosenärztin aus Hamburg. "Das bedeutet, dass für rekonvaleszente und evtl. noch der Pflege bedürftige Patienten ein Haus- oder Facharzt (der auch Hausbesuche macht), unter Umständen ein Pflegedienst oder Angehörige und Freunde zur Verfügung stehen müssen. Vor allem aber benötigt der Mensch eine Häuslichkeit und die Möglichkeit zum Rückzug. Diese Voraussetzungen sind bei den meisten wohnungslosen Patienten nicht gegeben."

Ein funktionierendes System zur ambulanten Nachsorge, z.B. in Krankenwohnungen oder speziell ausgestatteten Krankenzimmern in Übernachtungsheimen, existiert in den meisten Städten nicht. Bis jetzt wird häusliche Krankenpflege für wohnungslose Patienten ohne eigenen Haushalt häufig von den Kostenträgern nicht bezahlt.

Ishorst-Witte: "Es stellt sich somit die Frage, wie die Krankenhäuser reagieren werden, wenn aus betriebswirtschaftlicher Sicht eine Entlassung indiziert ist, der Patient jedoch für das Leben auf der Straße oder in einer Übernachtungsstätte noch zu krank ist. So wird zum Beispiel für eine einfache Bronchopneumonie (Lungenentzündung) ohne Komplikationen eine Verweildauer von sechs Tagen veranschlagt. Das Krankenhaus kann den Patienten selbstverständlich länger stationär bleiben lassen, erhält aber erst ab einer Dauer von 21 Tagen wieder mehr Geld. Das bedeutet, dass die Zeit dazwischen für das Haus defizitär wird. Für bestimmte Operationen, wie beispielsweise die Appendektomie (Blinddarmentfernung) gibt es die erwähnten Komorbiditätsfaktoren nicht. Aufgrund der häufigen Mehrfacherkrankungen von wohnungslosen Patienten kann sich deren Entlassung aber hinauszögern. Für eine Klinik sind sie dann eine wenig attraktive Patientengruppe."

Ähnlich verhält es sich bei einem vorzeigen Abbruch der Behandlung durch den Patienten: Vergütet wird dann nicht der Basispreis, sondern nur ein niedrigeres Relativgewicht des Basispreises.

Forderungen: Soziallevel im System der Fallpauschalen, Sicherstellung der häuslichen Pflege und der Krankenversicherung für Wohnungslose

"Die Lebenslage wohnungsloser und sozial ausgegrenzt oder isoliert lebender Menschen wird in diesem System nicht berücksichtigt. Wir befürchten daher eine weitere Gefährdung des Gesundheitszustandes und der medizinischen Versorgung wohnungloser Patientinnen und Patienten", erklärte Winfried Uhrig, stellvertretender Vorsitzender der BAG Wohnungslosenhilfe.

Die BAG Wohnungslosenhilfe fordert daher eine Nachbesserung der Bestimmungen zu den diagnosebezogenen Fallpauschalen sowie Verbesserungen bei den anstehenden Reformen des Gesundheitssystems, die der Benachteiligung der wohnungslosen und sozial ausgegrenzten Menschen im Gesundheitssystem endlich ein Ende setzen.

Winfried Uhrig: "Neben den Komorbiditäts- und Komplikationsleveln im System der Fallpauschalen muss es auch einen Soziallevel geben.

Die Novellierung der gesetzlichen Bestimmungen zur häuslichen Krankenpflege (nach § 37 SGB V) muss sicherstellen, dass auch Menschen ohne eigenen Haushalt Anrecht auf häusliche Krankenpflege haben.

Wohnungslose müssen auch ohne dauerhafte Meldeadresse Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung erhalten und mit einer Krankenversichertenkarte ausgestattet werden. Dies ist ein wichtiger Schritt, um eine der vielen Zugangsschwellen zur medizinischen Regelversorgung für wohnungslose Patientinnen und Patienten leichter überwindbar zu machen."

Bielefeld/Berlin, 17.09.03

Falls Sie weiterführende Materialien, z.B. zur Zahl der Wohnungslosen u.a. benötigen, so finden Sie diese Informationen auf der BAG-Website: www.bagw.de.

PRM_2003_09_17_DRG.pdf