Gesundheitsreform führt zu akuter gesundheitlicher Gefährdung wohnungsloser Patienten

(Bielefeld) Die seit 1. Januar geltenden Zuzahlungen, Praxisgebühren und Mängel bei der Einführung der Krankenversichertenkarten für Sozialhilfebezieherinnen und -bezieher führen zu einer akuten gesundheitlichen Gefährdung wohnungsloser Patientinnen und Patienten. Darauf machte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W), die Dachorganisation der Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, aufmerksam.

Ab 1. Januar 04 müssen alle Sozialhilfebezieherinnen und -bezieher Zuzahlungen zu Arznei-, Verband- und Heilmitteln, Hilfsmitteln sowie zu stationären Krankenhausaufenthalten und häuslicher Krankenpflege leisten und die Praxisgebühr von 10,00 EUR zahlen. Die Belastungsgrenze liegt bei 2% der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt, bei chronisch Kranken bei 1%. Ausgehend vom derzeitigen Sozialhilfe-Regelsatz von ca. 296,00 EUR sind dies ca. 71,00 EUR pro Jahr. Dies bedeutet de facto eine Senkung des bereits seit Jahren nicht mehr an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten angepassten Regelsatzes um ca. 2%. Zum Nachweis der Belastungsgrenze müssen sämtliche Belege gesammelt und entsprechen eingereicht werden, dies wird vielen wohnungslosen Patientinnen und Patienten aufgrund ihrer Lebenslage unmöglich sein. Bisherige Definitionen chronischer Erkrankung, d.h. ein Jahr lang mindestens zweimal pro Quartal wegen derselben Krankheit in ärztlicher Behandlung und in zwei Jahren auch ein stationärer Krankenhausaufenthalt oder die Pflegestufe II oder III oder eine Behinderung von mindestens 70 Prozent, treffen auf die Lebenslage wohnungsloser Patientinnen und Patienten selten zu. Das Problem liegt ja gerade darin, dass diese Patientengruppe oft aus der medizinischen Regelversorgung ausgegrenzt ist.

Sozialhilfebezieherinnen und -bezieher in Heimen oder Krankenhäusern erhalten lediglich 30% des Sozialhilferegelsatzes als Barmittel, d.h. 88,80 EUR/Monat bzw. 3,30 EUR/Tag für ihren persönlichen Bedarf, um Telefonate, Zeitungen, Körperpflegemittel, Treffen mit Freunden oder Verwandten bei einer Tasse Kaffee vielleicht außerhalb des Heimes zu finanzieren.

Für BewohnerInnen einer stationären Einrichtung der Wohnungslosenhilfe bedeutet die Zuzahlung von 71,00 EUR/ Jahr eine faktische Senkung ihrer Barmittel um 6,6%. Wie soll ein Heimbewohner oder ein Sozialhilfe beziehender Patient bspw. einen einwöchige Krankenhausaufenthalt (Zuzahlung 10,00 EUR / Tag) finanzieren, der fast die gesamten Barmittel eines Monats kostet?

Zahlreiche wohnungslose Bürgerinnen und Bürger beziehen keinen monatlichen Sozialhilferegelsatz zum Lebensunterhalt, sondern einen Tagessatz von ca. 9,90 EUR/ Tag. Bei einem Tagessatz von 9,90 EUR kann keine Praxisgebühr bezahlt werden, geschweige denn die Zuzahlungen zu einem Arzneimittel, zu einer Verordnung oder einem Hilfsmittel - selbst dann nicht, wenn die wohnungslosen Patienten und Patientinnen an diesem Tag keinen Cent für Nahrung und Unterkunft ausgeben würden.

Positive Maßnahmen konterkariert

Die BAG Wohnungslosenhilfe hatte es lange gefordert und ausdrücklich begrüßt, dass durch die Gesundheitsreform auch Patienten und Patientinnen ohne eigenen Haushalt ein Recht auf häusliche Behandlungspflege erhalten. Diese positive Maßnahme wird nun konterkariert: 10,00 EUR für die Verordnung und 10% der Kosten der häuslichen Behandlungspflege können sie nicht finanzieren.

Gravierende Mängel bei Einführung des neuen Systems

Akut gefährdet sind wohnungslose Patientinnen und Patienten jetzt bei der Einführung der Versichertenkarten für Sozialhilfebezieherinnen und -bezieher: Bei den Krankenkassen, besonders den Ersatzkassen, kommt es zu mehrwöchigen Bearbeitungszeiten, d.h. zahlreiche wohnungslose Patientinnen und Patienten erhalten weder wie früher den Krankenschein vom Sozialamt noch eine Chipkarte von der Krankenkasse. Das bedeutet, sie sind von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen. Im besten Fall können sie mit gespendeten Medikamenten versorgt werden, falls sie das Glück haben, in ihrer Umgebung ein medizinisches Projekt zur Versorgung von wohnungslosen Patientinnen und Patienten vorzufinden. Ansonsten bleibt ihnen die Hoffnung auf die pure Mildtätigkeit von Ärzten oder Apothekern.

Diese Situation birgt besonders für chronisch kranke Wohnungslose ein lebensbedrohliches Risiko.

Forderungen der Wohnungslosenhilfe

Um die schlimmsten Konsequenzen zu verhüten, muss kurzfristig Folgendes geschehen:

  • Solange Sozialhilfebezieherinnen und -bezieher noch keine Versichertenkarte einer Krankenversicherung erhalten haben, muss das zuständige Sozialamt weiterhin einen Krankenschein ausstellen.
  • Die Sozialhilfeträger müssen die Zuzahlungskosten bis zur Belastungsgrenze als Darlehn finanzieren so wie es auch in der Begründung des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes vorgesehen ist.
  • Die Definition der chronischen Erkrankung muss der Lebenslage wohnungsloser Patientinnen und Patienten angepasst sein.
  • Die BAG W rät allen Wohnungslosen, bei ihrem zuständigen Sozialamt die Übernahme der Zuzahlungskosten zu beantragen.

Die BAG Wohnungslosenhilfe fordert den Gesetzgeber dringend auf, Sozialhilfebezieherinnen und -bezieher von Zuzahlungen zur medizinischen Versorgung sowie von der Praxisgebühr zu befreien.

In der nächsten Woche werden auf einer bundesweiten Tagung der BAG Wohnungslosenhilfe in Münster Betroffene und Mitarbeiter aus Medizin, Krankenpflege und Sozialarbeit ihre Erfahrungen austauschen und ihre Alternativen formulieren.

Bielefeld, den 21.01.04

PRM_2004_01_21_Gesundheitsreform.pdf