Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück: Wie die Gesundheitsreform positive Ansätze in der medizinischen Versorgung wohnungsloser Patientinnen und Patienten untergräbt

Tagung der Arbeitsgemeinschaft Medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen

(Münster/Bielefeld, 29.1.04) "Der Gesundheitszustand wohnungsloser und Sozialhilfe beziehender Bürgerinnen und Bürger wird sich in Folge der Gesundheitsreform weiter verschlechtern", stellt Barbara Peters-Steinwachs, Wohnungslosenärztin aus München und Sprecherin der AG Medizinische Versorgung Wohnungsloser, zu Beginn einer bundesweiten Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) heute in Münster fest. Die BAG W ist die Dachorganisation der Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe in Deutschland.

"Durch die Praxisgebühr sind die Schwellen zur medizinischen Versorgung wohnungsloser Patienten und Patientinnen weiter angehoben worden, die Einnahme notwendiger Arzneien wird aus Geldmangel abgebrochen oder reduziert, der Arztbesuch wird verschleppt. In der Konsequenz muss damit gerechnet werden: Der Gesundheitszustand verschlechtert sich und die Kosten des Gesundheitswesens steigen, denn anstelle der medizinischen Regelversorgung tritt durch den aufgeschobenen Arztbesuch oder die nicht eingenommenen Medikamente u.U. eine kostenintensive Notaufnahme in ein Krankenhaus", bilanziert Werena Rosenke, stellvertretende Geschäftsführerin der BAG W.

Das Ende der Niedrigschwelligkeit

Gerade wohnungslose Frauen und Männer sind aufgrund ihrer Lebenslage auf niedrigschwellige Hilfeangebote angewiesen. Sämtliche Projekte der niedrigschwelligen medizinischen Versorgung setzen da an, wo die Zugangsschwellen zu den Regelversorgungsangeboten eine Inanspruchnahme durch Wohnungslose verhindert.

Häufiger als in der wohnenden Bevölkerung finden sich bei Wohnungslosen Mehrfacherkrankungen. Es dauert oftmals lange bis ein Kontakt bei dieser Patientengruppe gebahnt ist. Die Behandlung erfolgt in der Regel in ihrem Lebensumfeld und unter Voraussetzungen, die immer erwarten lassen müssen, dass es bei einem einzigen Behandlungskontakt bleibt. Von einer erfolgreichen Vermittlung an einen weiterbehandelnden Arzt kann nicht immer ausgegangen werden.

Gleichwohl spielt die Behandlungskontinuität eine entscheidende Rolle. Oft lassen sich erst mit Ausbildung einer tragfähigen Beziehung zwischen Arzt/Pflegekraft und Patient/in (was mitunter Monate in Anspruch nimmt) und eines entsprechenden Vertrauens weiterführende Kontakte herstellen.

Durch Praxisgebühr, Zuzahlungen und Budgetierung der Behandlungskosten dieser Patientengruppe wird das Prinzip der niedrigschwelligen Hilfen, die existentiell für diese Menschen sind, ausgehebelt.

"Ich will wohnungslose Menschen in das bestehende medizinische Regelversorgungssystem integrieren. Dies wird durch die Praxisgebühr erschwert bzw. verhindert, da das Geld oftmals nicht vorhanden ist. Die Folge ist eine Selbstbehandlung oder gar keine Behandlung, sondern ein Ignorieren der Symptome," so Margarete Streib, Krankenschwester und eine der Sprecherinnen der AG Medizinische Versorgung wohnungsloser Menschen.

Medizinische Angebote für Wohnungslose sind akut gefährdet

Die in den letzten Jahren entstandene Infrastruktur zur medizinischen Versorgung wohnungsloser Patientinnen und Patienten ist akut gefährdet: Wohnungslosenärzten mit kassenärztlichen Ermächtigungen werden die Praxisgebühren ihrer Patienten von den Vergütungen durch die Krankenkassen abgezogen, auch wenn ihre Patienten die Gebühr nicht bezahlen können. Dies kann sich keine Wohnungslosenpraxis leisten, denn andere Patienten, durch die sich eventuell der Verlust auffangen ließe, gibt es nicht. In den Angeboten der medizinischen Versorgung für Wohnungslose, die nicht mit Kassenzulassung arbeiten, sondern von Trägern der Wohnungslosenhilfe und/oder mit Spenden unterstützt werden, wird es eine deutliche Zunahme von einkommensarmen, aber nicht unbedingt wohnungslosen Patientinnen und Patienten geben, die sich einen normalen Arztbesuch mit Praxisgebühr und ein kostenpflichtiges Arzeimittel aus der Apotheke nicht mehr leisten können. Diese zusätzliche Inanspruchnahme kann das System der niedrigschwelligen medizinischen Hilfen für wohnungslose Patientinnen und Patienten nicht schultern.

Alte Diskriminierung in neuen Schläuchen

Auch wenn Wohnungslose durch die Gesundheitsreform unter bestimmten Umständen eine Krankenversicherungskarte erhalten, so sind sie dennoch nicht krankenversichert!

Seit 1. Januar sollen alle Sozialhilfebezieher und -innen, die die Hilfe zum Lebensunterhalt voraussichtlich mehr als einen Monat lang beziehen werden, statt des Krankenscheins vom Sozialamt eine Versichertenkarte der Krankenversicherung ihrer Wahl erhalten. Bei der bisherigen Behandlung auf Krankenschein des Sozialamtes wurden die Kosten zur Behandlung dieser Patienten nicht dem ärztlichen Budget angerechnet, d.h. der behandelnde Arzt konnte alle notwendigen Behandlungskosten beim Träger der Sozialhilfe geltend machen. Mit der nun eingeführten Abrechung über die Krankenkasse fallen auch die Sozialhilfe beziehenden Patienten ins Budget.

Begründet wurde die Umstellung auf die Krankenversichertenkarte u.a. damit, dass die Diskriminierung in den Arztpraxen entfiele, da nun niemand mehr durch den Schein vom Sozialamt sofort als Sozialhilfebezieher zu identifizieren sei.

"Dies stimmt nicht! Pünktlich zur Einführung der Versichertenkarten gibt es auch eine neue Patientenkennung: Status "Sozialhilfe", der auf der Chipkarte sofort ersichtlich ist.

Dies bedeutet im Klartext: Die Diskriminierungsmöglichkeit bleibt bei gleichzeitiger Deckelung der Leistungen für eine sowieso in vielen Arztpraxen nicht gerne gesehene Gruppe von Patienten und Patientinnen", so Peters-Steinwachs.

Gravierende Mängel bei Einführung des neuen Systems

Bereits in der letzten Woche hatte die BAG Wohnungslosenhilfe auf die gravierenden Mängel bei Einführung des neuen Systems aufmerksam gemacht.

Akut gefährdet sind wohnungslose Patientinnen und Patienten jetzt bei der Einführung der Versichertenkarten für Sozialhilfebezieherinnen und -bezieher: Bei den Krankenkassen, besonders den Ersatzkassen, kommt es zu mehrwöchigen Bearbeitungszeiten, d.h. zahlreiche wohnungslose Patientinnen und Patienten erhalten weder wie früher den Krankenschein vom Sozialamt noch eine Chipkarte von der Krankenkasse. Das bedeutet, sie sind von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen. Im besten Fall können sie mit gespendeten Medikamenten versorgt werden, falls sie das Glück haben, in ihrer Umgebung ein medizinisches Projekt zur Versorgung von wohnungslosen Patientinnen und Patienten vorzufinden. Ansonsten bleibt ihnen die Hoffnung auf die pure Mildtätigkeit von Ärzten oder Apothekern.

Diese Situation birgt besonders für chronisch kranke Wohnungslose ein lebensbedrohliches Risiko.

Bernhard Mülbrecht, Sozialarbeiter und Leiter des Hauses der Wohnungslosenhilfe in Münster ergänzt: "Zahlreiche wohnungslose Bürgerinnen und Bürger beziehen keinen monatlichen Sozialhilferegelsatz zum Lebensunterhalt, sondern einen Tagessatz von ca. 9,90 EUR / Tag. Bei einem Tagessatz von 9,90 EUR kann keine Praxisgebühr bezahlt werden, geschweige denn die Zuzahlungen zu einem Arzneimittel, zu einer Verordnung oder einem Hilfsmittel - selbst dann nicht, wenn die wohnungslosen Patienten und Patientinnen an diesem Tag keinen Cent für Nahrung und Unterkunft ausgeben würden."

Chronikerregelung wenig praxistauglich

Auch die in der letzten Woche ausgehandelte Chronikerregelung ist für die meisten wohnungslosen Patienten ohne Wert. Um den Nachweis einer chronischen Erkrankung beizubringen, ist ein erheblicher bürokratischer Aufwand notwendig, den Menschen ohne Wohnung nicht erbringen können und vor allem: Eine chronische Erkrankung ist nur belegbar, wenn es eine Anbindung an das Regelsystem zur medizinischen Versorgung gibt. Das Problem der Gruppe der wohnungslosen Patienten liegt aber gerade darin, dass diese Patientengruppe oft aus der medizinischen Regelversorgung ausgegrenzt ist und erst mit Hilfe der niedrigschwelligen Angebote wieder an das Regelsystem herangeführt werden soll.

Wohnungslosenhilfe appelliert an den Gesetzgeber

Durch die Gesundheitsreform:

  • Wird sich der Gesundheitszustand der wohnungslosen Bürgerinnen und Bürger rapide verschlechtern;
  • Ist die Niedrigschwelligkeit, unabdingbare Voraussetzung einer effektiven Hilfe für wohnungslose Patientinnen und Patienten in akuter Gefahr;
  • Sind zahlreiche Projekte der medizinischen Versorgung wohnungsloser Patienten und Patientinnen in ihrer Existenz gefährdet.

Die BAG Wohnungslosenhilfe fordert den Gesetzgeber deshalb dringend auf, Sozialhilfebezieherinnen und -bezieher von Zuzahlungen zur medizinischen Versorgung sowie von der Praxisgebühr zu befreien. Selbst diverse Ausnahmeregelungen werden immer mit einem so hohen bürokratishen Aufwand einhergehen müssen, dass sie der Lebenslage Wohnungsloser nicht entsprechen und somit obsolet sind.

Werena Rosenke: "Um die schlimmsten Konsequenzen der Gesundheitsreform zu verhüten, muss kurzfristig Folgendes geschehen:

  • Solange Sozialhilfebezieherinnen und -bezieher noch keine Versichertenkarte einer Krankenversicherung erhalten haben, muss das zuständige Sozialamt weiterhin einen Krankenschein ausstellen.
  • Die Sozialhilfeträger müssen die Zuzahlungskosten bis zur Belastungsgrenze als Darlehn finanzieren so wie es auch in der Begründung des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes vorgesehen ist.
  • Die BAG W rät allen Wohnungslosen, bei ihrem zuständigen Sozialamt die Übernahme der Zuzahlungskosten zu beantragen."

Bielefeld/ Münster, den 29.1.04

PRM_2004_01_29_Gesundheitsreform.pdf