Wohnungslose und Ausgegrenzte mitnehmen und nicht zurücklassen
Wohnungslosenhilfe: Keine Modernisierung des Sozialstaats auf Kosten der Ärmsten
Fulda. 400 Teilnehmer haben sich in Fulda zur Bundestagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) versammelt. Nach Schätzung der BAG W für das Jahr 2002 gibt es ca. 410.000 wohnungslose Menschen, davon 180.000 Personen in Mehrpersonenhaushalten und 150.000 alleinstehende Wohnungslose sowie 80.000 Aussiedler in Übergangsunterkünften. Damit verringerte sich die Zahl der Wohnungslosen in Ein- und Mehrpersonenhaushalten ohne Aussiedler in Übergangsunterkünften von 390.000 im Jahr 2000 um ca. 16% auf ca. 330.000 im Jahr 2002.
Die BAG W, die Dachorganisation der Wohnungslosenhilfe in Deutschland, wendet sich gegen den Versuch, die gegenwärtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Krise in Folge von Globalisierung und weltweiter Rezession ausschließlich zu einer Krise des Sozialstaates zu deklarieren. Die nach dieser Logik notwendige Modernisierung des Sozialstaates führt, so die Befürchtung der BAG W, zu einer Modernisierung der sozialen Ausgrenzung und nicht zur Integration ausgegrenzter, oftmals wohnungsloser Bürgerinnen und Bürger.
Strukturelle Massenarbeitslosigkeit, Dequalifizierung, Zwangsmobilität sind aktuelle Herausforderungen für den Sozialstaat. Zu den Herausforderungen gehören auch die gesundheitlichen und psychosozialen Folgen für die Frauen und Männer, die diesem Wettlauf der Leistungsfähigkeit nicht gewachsen sind. Es wächst die Zahl derer, die sich in dieser Konkurrenz nicht behaupten können, die oft einfach nicht gebraucht werden.
"Die BAG Wohnungslosenhilfe setzt sich dafür ein, dass die Achtung der Menschenrechte und der Menschenwürde Ausgangspunkt und Grundlage aller Anstrengungen zur Überwindung sozialer Ausgrenzung, Armut und Wohnungslosigkeit sind. Deswegen fordern wir eine existenzsichernde soziale Grundsicherung, als wesentliche Voraussetzung zur Verhinderung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Wir wenden uns gegen Bestrebungen, das Bedarfsdeckungsprinzip der Sozialhilfe in Frage zu stellen. Wir fordern das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben auch für Benachteiligte“, erklärte Renate Walter-Hamann, Vorsitzende der BAG W, in Fulda.
Es geht um soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Gefordert ist von der Gesellschaft Solidarität mit denen, die in der Leistungsgesellschaft auf der Strecke zu bleiben drohen - unabhängig von der Marktfähigkeit des Einzelnen.
Von der Politik fordern wir konkret:
Sozialhilfe und Sozialpolitik – keine Sozialhilfegewährung durch die Bundesanstalt für Arbeit
Die bisher bekannt gewordenen Reformvorschläge zur Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe sind einseitig und ungerecht und können in letzter Konsequenz zu einer weiteren Aushöhlung der Grundprinzipien der Sozialhilfe führen: des Bedarfsdeckungsgrundsatzes und des Individualitätsprinzips. Wir fordern, dass die Sozialhilfe zu einer eigenständigen bedarfsdeckenden Grundsicherung weiterentwickelt wird.
Renate Walter-Hamann: "Die BAG W unterstützt eine bessere Verzahnung zwischen Arbeitshilfen und Sozialhilfe, aber die sozialen Integrationsleistungen dürfen nicht allein vom Status der Erwerbsfähigkeit abhängig gemacht werden. Ein großer Teil der wohnungslosen Frauen und Männer würde damit von einer fördernden und aktivierenden Hilfe ausgeschlossen. Deswegen lehnen wir die Übertragung der Sozialhilfegewährung – in welcher zukünftigen Form auch immer - in die Zuständigkeit der Bundesanstalt für Arbeit entschieden ab!"
Teilhabe am Leben in der Arbeitswelt – bewährte Hilfen für Wohnungslose erhalten
Da die Arbeitslosigkeit und Sozialhilfeabhängigkeit wichtige Gründe auch für den Verlust der eigenen Wohnung sind, ist es notwendig und richtig, die Vermittlung und Förderung in den Arbeitsmarkt zu einer zentralen Aufgabe der Sozialhilfe- und Arbeitsförderungspolitik zu erklären. Jedoch dürfen dabei bewährte Hilfen für Wohnungslose und sozial Ausgegrenzte, beispielsweise Beschäftigungsgesellschaften und Arbeitsprojekte, nicht gefährdet werden.
Heinrich Holtmannspötter, Geschäftsführer der BAG W, stellte fest: „Die Bundesregierung muss sicherstellen, dass die besonders schwer vermittelbaren wohnungslosen Arbeitslosen im Rahmen der Reform der Arbeitsvermittlung mit besonderen Förderprogrammen und subventionierten Arbeits- und Beschäftigungsangeboten versorgt werden. Arbeit als zentraler Faktor zur Überwindung sozialer Ausgrenzung und Armut muss auch denen ermöglicht werden, deren Arbeitsbereitschaft und Beschäftigungssuche am ersten Arbeitsmarkt nicht gefragt sind."
Wohnungsversorgung und Wohnungspolitik – Ausgegrenzte zielgenauer erreichen
Die BAG Wohnungslosenhilfe fordert die Bundesregierung auf, umgehend eine Gesetzesinitiative zur Einführung einer bundesweiten Wohnungslosenstatistik vorzulegen.
Die Politik muss endlich ihre Verantwortung für ein jährliches umfassendes statistisches Bild der Wohnungslosigkeit wahrnehmen, so wie es in anderen Bereichen längst selbstverständlich ist.
Dabei sollten nach Ansicht der BAG W die Daten der von Wohnungsverlust bedrohten Haushalte unbedingt bei der Erhebung berücksichtigt werden, um den jährlichen Präventionsbedarf abzuschätzen.
Der soziale Wohnungsbau ist mit nur ca. 14.000 geförderten Sozialmietwohnungen im Jahr 2001 auf einen neuen Tiefststand abgefallen. Zwar wurden darüber hinaus ca. 40.000 Wohneinheiten im Rahmen der sozialen Eigentumsförderung erstellt, aber diese spielen für die Wohnungsversorgung der wohnungslosen Haushalte praktisch keine Rolle.
Heinrich Holtmannspötter: „Wir befürworten eine Neuausrichtung der Wohnungspolitik, die zielgenauer die vom Wohnungsmarkt ausgegrenzten Gruppen erreicht, auf regional unterschiedliche Entwicklungen eingehen kann und eine weitere soziale Segregation unserer Städte verhindert."
Gesundheitsversorgung – medizinische Hilfen nicht als Carepaket
Wohnungslose sind aufgrund vielfältiger Umstände von der regulären Gesundheits- und Krankenversorgung ausgeschlossen, bzw. werden von den vorhandenen Versorgungsstrukturen nur schwer erreicht.
Zielgruppenspezifische Angebote schließen diese Versorgungslücken und sichern eine angemessene gesundheitliche Grundversorgung. Der Bedarf an entsprechend zugeschnittenen Hilfen wurde in verschiedenen Untersuchungen festgestellt und differenziert.
Zur Sicherstellung einer diesen Bedarfen angemessenen medizinischen Versorgung wohnungsloser Bürgerinnen und Bürger muss die ausreichende finanzielle und personelle Ausstattung der Angebote gewährleistet werden. Dies sehen wir als eine Verantwortung der Gesundheitspolitik, der Krankenkassen und Ärzteverbände.
Soziale Dienste zur Überwindung sozialer Ausgrenzung
Die sozialen Dienste für Wohnungslose müssen ins. in den östlichen Bundesländern mit Nachdruck von Kommunen und freien Trägern aufgebaut werden. Das System der sozialen Dienste für Wohnungslose bedarf in Zukunft stärkerer Koordination und Vernetzung mit anderen Hilfen der sozialen Arbeit, mit Hilfen zur Wohnungsversorgung und Hilfen zur Integration in den Arbeitsmarkt. Hierzu ist es erforderlich, Versorgungsregionen zu bestimmen, Sozialplanung zu fördern und die lokalen Anbieter vor Ort vermehrt an einen runden Tisch zu holen.
Die Bundesregierung sollte ein Aktionsprogramm zur regionalen Koordination der Hilfen und zur Erprobung von stärkerer Hilfeplanung auflegen, das eng mit dem Programm „Soziale Stadt“ verzahnt wird.
"Leistungsfähige und finanziell abgesicherte soziale Dienste für Wohnungslose sind die Brücke der Wohnungslosen zur sozialen Integration“, sagte der stellvertretende Geschäftsführer der BAG W, Dr. Thomas Specht-Kittler.
Jahresschätzung 2002: 410.000 Wohnungslose
Trotz der großen Sorge über zunehmende Ausgrenzungstendenzen, gibt es auch Positives zu vermelden: Die Gesamtzahl der Wohnungslosen (mit wohnungslosen Aussiedlern ) hat sich in den Jahren 2001-2002 weiter verringert. Für das Jahr 2002 schätzt die BAG W die Zahl der Wohnungslosen auf 410.000. Damit hat sich die Gesamtzahl der Wohnungslosen nach Einschätzung der BAG W gegenüber dem Jahr 2000 um ca. 20 % reduziert.
Die Zahl der Wohnungslosen in Ein- und Mehrpersonenhaushalten ohne Aussiedler in Übergangsunterkünften verringerte sich von 390.000 im Jahr 2000 um ca. 16% auf ca. 330.000 im Jahr 2002.
Die Zahl der wohnungslosen Einpersonenhaushalte sinkt dagegen nur um 11% von ca. 170.000 in 2000 auf ca. 150.000 in 2002. Vom Jahr 2001 auf das Jahr 2002 blieb die Zahl der wohnungslosen Einpersonenhaushalte konstant. Dies ist ein erstes Zeichen für eine mögliche Umkehr der Entwicklung in den kommenden Jahren. Da dieser Personenkreis zugleich auch den überwiegenden Teil der Klientel der sozialen Dienste der Wohnungslosenhilfe bildet, ist dies ein Beleg für die wieder zunehmenden Vermittlungsschwierigkeiten, von denen die Dienste berichten.
Die Zahl der Aussiedler in Übergangsunterkünften beträgt 80.000. Der Rückgang der Wohnungslosenzahlen ist auf den Abbau der Belegung in Übergangsunterkünften zurückzuführen, aber auch auf die weiter stark rückläufigen Zuwanderungszahlen.
In Ostdeutschland sinkt die Zahl der Wohnungslosen von 50.000 im Jahr 2000 um ca. 15 % auf 43.000 im Jahr 2002. Für Westdeutsch-land schätzt die BAG 290.000 Wohnungslose (ohne Aussiedler) für 2002 (2000: 340.000), ein Rückgang um ca. 15 %. Damit hat sich die Entwicklung in Ost und West weiter angeglichen.
Rückgang auch ein Erfolg der Wohnungslosenhilfe und der Prävention
Dazu erklärte Renate Walter-Hamann: "Der anhaltende Rückgang der Wohnungslosenzahlen in den westdeutschen Bun-desländern bis 2002 ist ein Erfolg der Anstrengungen von Kommunen und freien Trägern der Wohnungslosen-hilfe bei der Verhinderung von Woh-nungsverlusten." So haben freie Trä-ger in der Wohnungslosenhilfe in den letzten Jahren ihr ambulantes Beratungsangebot ausgebaut und damit auch die Vermittlung in Wohnraum erleichtert. Zahlreiche Kommunen konnten durch Miet-schuldenübernahmen den Woh-nungsverlust verhindern.
Warnung für die kommenden Jahre
"Mit Blick auf die Zukunft muss wieder mit einem Anstieg der Wohnungslosigkeit gerechnet werden", so Renate Walter-Hamann, "da in den kommenden Jahren der verfügbare Sozialwohnungsbestand, auf den einkommensschwache Haushalte angewiesen sind, weiter rückläufig sein wird."
Auch die Zahl der akut Wohnungslosen steigt seit 2002 insb. in einzelnen Großstädten wieder deutlich an. Diese Entwicklung könnte sich 2003 auch in anderen Städten fortsetzen.
Angesichts der eingebrochenen Baukonjunktur und stark rückläufiger Fertigstellungszahlen könnte sich in den nächsten Jahren – trotz regionaler Leerstände - wieder ein Wohnungsdefizit geben.
Und bei wieder stark steigender Arbeitslosenzahlen ist bei den Wohnungslosenzahlen mit einer Trendwende zu rechnen, zumal sich der rückläufige Trend insgesamt abgeschwächt hat.
Fulda, 23. Mai 2003
PRM_2003_05_23_BUTA.pdf