Zahl der Wohnungslosen in Deutschland steigt
BAG Wohnungslosenhilfe sieht bedrohliche Trendwende
Leipzig / Bielefeld 09. 11. 2011. Die BAG Wohnungslosenhilfe (BAG W), der Dachverband der Wohnungslosenhilfe in Deutschland, sieht einen deutlichen Anstieg der Wohnungslosigkeit in Deutschland. Die BAG W prognostiziert bis 2015 sogar einen weiteren drastischen Anstieg der Wohnungslosigkeit um 10 – 15 % auf dann 270.000 bis 280.000 Menschen.
„Wir müssen leider davon ausgehen, dass das Ausmaß der Wohnungslosigkeit zwischen 2008 und 2010 dramatisch gestiegen ist“, erklärte Thomas Specht, Geschäftsführer der BAG W, zu Beginn der diesjährigen Bundestagung des Verbandes in Leipzig.
In Deutschland gibt es keine bundeseinheitliche Wohnungsnotfall-Berichterstattung auf gesetzlicher Grundlage. Seit Jahren fordert die BAG W die jeweiligen Bundesregierungen auf, umgehend einen entsprechenden Gesetzesentwurf ins Parlament einzubringen. Solange dieser Missstand besteht, muss die BAG W Schätzungen vornehmen, um überhaupt zu einer bundesweiten Bewertung der Situation kommen zu können.
Ausmaß der Wohnungslosigkeit zwischen 2008 und 2010 dramatisch gestiegen
2010 waren ca. 248.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung, 2008 waren es noch 227.000. Weitere ca. 106.000 Menschen waren in 2010 (2008: 103.000) von Wohnungslosigkeit bedroht, d.h. bei ihnen stand der Verlust der Wohnung unmittelbar bevor. In 2010 zählten also insgesamt ca. 354.000 zu den sog. Wohnungsnotfällen, in 2008 waren es noch 330.000.
Alleinstehende besonders stark von zunehmender Wohnungslosigkeit betroffen
„Nach über 10 Jahren ist die Gesamtzahl der in Deutschland wohnungslos gewordenen Menschen wieder deutlich um 10 % gestiegen. Die Wohnungslosigkeit bei Einpersonenhaushalten, den sog. alleinstehenden Menschen, stieg dabei mit + 15% noch deutlicher als die Wohnungslosigkeit der Mehrpersonenhaushalte (+3%). Die Zahl der alleinstehenden Wohnungslosen stieg von 132.000 in 2008 auf 152.000 in 2010“, sagte Thomas Specht.
Straßenobdachlosigkeit nimmt zu
Auch die Zahl der Menschen, die ohne jede Unterkunft auf der Straße leben, stieg von ca. 20.000 in 2008 auf ca. 22.000 in 2010 - eine Steigerung um 10 %!
10 % der Wohnungslosen minderjährig
Bezogen auf die Gesamtgruppe der im Jahr 2010 Wohnungslosen schätzt die BAG W die Zahl der Kinder und minderjährigen Jugendlichen auf ca. 10%, die Zahl der Männer auf ca. 64%; der Frauenanteil liegt bei 26 %.
Die Dienste der Wohnungslosenhilfe betreuten 2010 ca. 100.000 - 110.000 Menschen aus diesem Bereich.
Prognose bis 2015: bis zu 270.000 - 280.000 wohnungslose Menschen in Deutschland
Angesichts der wirtschafts- und finanzpolitischen Lage sowie der sozialpolitischen Rahmenbedingungen werden sich die beschriebenen Trends weit über 2011 hinaus fortsetzen, so dass mit einer Fortsetzung des Anstiegs der Wohnungsnotfälle der Jahre 2009 und 2010 zu rechnen ist. Deshalb prognostiziert die BAG W einen Anstieg der Wohnungslosenzahlen um 10-15% auf 270.000 – 280.000 bis zum Jahr 2015.
Ursachen für steigende Zahl der Wohnungslosen: Hohe Mieten, Verarmung und Fehlentscheidungen bei Hartz IV
Nach Meinung der BAG W sind im Wesentlichen drei Faktoren maßgeblich für den Wiederanstieg der Wohnungslosenzahlen nach einer zehnjährigen rückläufigen Entwicklung:
- Das Anziehen der Mietpreise ins. in den Ballungsgebieten bei gleichzeitiger Zunahme der Verarmung der unteren Einkommensgruppen in Verbindung mit dem geschrumpften sozialen Wohnungsbestand, dem nicht durch Wohnungspolitik gegengesteuert wurde. Im Gegenteil: Der Bund kürzt die Mittel für die Städtebauförderung erneut in 2012, das Programm „Soziale Stadt“ steht faktisch vor dem Aus; Kommunen und Länder verkaufen ihre eigenen Wohnungsbaubestände an private Investoren.
- Die Verarmung der unteren Einkommensgruppen steht in engem Zusammenhang mit der Dauerkrise am Arbeitsmarkt, die nicht zu einem Absenken der Zahl der Langzeitarbeitslosen geführt hat. Zugleich ist der Niedriglohnsektor aufgrund eines fehlenden Mindestlohns extrem angewachsen.
- Sozialpolitische Fehlentscheidungen bei Hartz IV: Sanktionierung auch bei den Kosten der Unterkunft von jungen Erwachsenen, unzureichende Anhebung des ALG II - Regelsatzes, Pauschalierung der Kosten für Unterkunft und Heizung (Stichwort: Satzungsermächtigung), Zurückfahren der Arbeitsförderungsmaßnahmen.
Der Wiederanstieg wäre noch dramatischer ausgefallen, hätten nicht in den letzten zehn Jahren die frei-gemeinnützige Wohnungslosenhilfe und die Kommunen ihre Anstrengungen bei der Überwindung und Prävention von Wohnungslosigkeit aufrechterhalten und weiter ausgebaut.
Junge Menschen zunehmend wohnungslos
Die Zahl der jungen wohnungslosen Menschen steigt weiter an. 2010 war bereits ein knappes Drittel der Klientel der Wohnungslosenhilfe unter 30 Jahre. 20% sind unter-25-jährig. In dieser Altergruppe ist der Anteil der jungen Frauen überproportional hoch: 31% sind jünger als 25, 43 % jünger als 30. Diese jungen Erwachsenen leben entweder ganz auf der Straße, in Abbruchhäusern oder kommen bei sog. Freunden und Bekannten unter. Dies sind häufig außerordentlich prekäre Wohn- und Lebensverhältnisse, die nicht selten von Gewalt und Missbrauch begleitet werden.
Die häufigen Sanktionen nach SGB II bei den jungen Erwachsenen und die immer seltener bewilligten Jugendhilfemaßnahmen für über 18-Jährige bewirken ein Übriges, so dass diese jungen Leute zunehmend sozial ausgegrenzt zu Wohnungsnotfällen werden.
Ohne Arbeit, ohne Einkommen
Trotz sinkender Arbeitslosenzahlen ist jeder sechste Einwohner Deutschlands armutsgefährdet; besonders betroffen: Arbeitslose und Alleinerziehende mit ihren Kindern. Dramatisch zugespitzt ist die Lage der Wohnungslosen. Winfried Uhrig, Vorsitzender der BAG W, erklärte am Rande der Bundestagung in Leipzig: „Ein Viertel unserer Klientel verfügt über keinerlei Einkommen. Von 2006 an ist der Anteil dieser vollkommen sozial isolierten und ausgeschlossenen Gruppe von damals 19 % auf den aktuellen Wert angestiegen. 90 % der Klientel der Wohnungslosenhilfe sind arbeitslos, die allermeisten langzeitarbeitslos. Angesichts dieser desolaten Lage ist es verheerend, dass die Bundesregierung mit ihrer Reform der Eingliederung in Arbeit („Instrumentenreform“) flächendeckende Kürzungen der bestehenden Eingliederungsangebote in den Arbeitsmarkt für wohnungslose Langzeitarbeitslose in Kauf nimmt.“
Drastische Umsteuerung gefordert
Winfried Uhrig: „Nur mit einer sozial- und arbeitsmarktpolitischen Wende – vergleichbar mit der energiepolitischen Wende – könnten diese sich abzeichnenden Entwicklungen zumindest noch abgemildert, wenn auch nicht mehr aufgehalten werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Lebenslagen von verarmten und wohnungslosen Menschen zur Kenntnis zu nehmen und konkrete Maßnahmen zur Verbesserung auf den Weg zu bringen. Es gilt konkret zu handeln, damit diesen Menschen der Zugang zu Wohnen, Gesundheit, Arbeit und Einkommen nicht weiter verwehrt bleibt.“ Deswegen fordert die BAG Wohnungslosenhilfe e.V.:
- eine feste Verankerung der Wohnungspolitik auf der Ebene des Bundes
- eine aktive soziale Wohnungsbaupolitik der Länder und Kommunen
- einen SGB II – Regelsatz, der anhand eines aussagefähigen Statistikmodells ermittelt wird und die tatsächlichen Verbrauchskosten berücksichtigt
- verbindliche Kriterien zur Festlegung der Mietobergrenzen - keine Pauschalierung der Kosten der Unterkunft; eine sozialräumliche Differenzierung dieser Mietobergrenzen sowie Einzelfallprüfungen zur Angemessenheit der Miete
- einen konsequenten Ausbau der Prävention von Wohnungsverlusten, u. a. durch die Förderung von Zentralen Fachstellen zur Vermeidung von Wohnungsverlusten und die Übernahme von Schulden für Unterkunft und Heizung auch als Beihilfe
- die Abschaffung der Sanktionen bei den Kosten der Unterkunft und ein Ende des staatlich festgelegten Auszugsverbots für junge Frauen und Männer, die weder über gut situierte Eltern noch über einen Arbeitsplatz verfügen
- einen öffentlich geförderten Arbeitsmarkt mit sozialversicherungsrechtlicher Absicherung, um dauerhafte Strukturen für besonders arbeitsmarktferne und wohnungslose Menschen zu schaffen
- die Wiedereinführung der Befreiung von Zuzahlungen bei Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln sowie die Abschaffung der Praxisgebühren für Bezieher und Bezieherinnen von SGB II - und XII – Leistungen