Erfolge der Wohnungslosenhilfe nicht durch öffentliche Sparhaushalte gefährden
Bundestagung der Wohnungslosenhilfe in München eröffnet
Bielefeld / München, 18.11.2009. Heute ist in München mit 750 Teilnehmenden und Mitwirkenden aus Sozialarbeit, Verbänden, Wissenschaft, Verwaltung und Politik die bislang größte Bundestagung der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) eröffnet worden.
Hilfen akut, präventiv, gemeindenah
„Wohnungslosenhilfe ist Hilfe im akuten Notfall, aber auch präventiv und gemeindenah“, fasst Winfried Uhrig, Vorsitzender der BAG W das Selbstverständnis der Dienste und Einrichtungen zusammen. „Die Erfolge der Wohnungslosenhilfe dürfen nicht durch öffentliche Sparhaushalte gefährdet werden“, so Uhrig mit Blick auf die Diskussion um leere Kassen bei geplanten Steuererleichterungen für besser Verdienende und Unternehmen.
In den letzten Jahren habe es tiefe Einschnitte in das System der sozialen Sicherung und Unterstützung gegeben. „Wohnungsnot, Armut und soziale Ausgrenzung – diese Existenz bedrohenden Problemlagen der an den Rand gedrängten Bürger und Bürgerinnen tauchen im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung - der selbsternannten „Koalition der Mitte“ nicht auf. Wir erwarten von der Bundesregierung konkrete Maßnahmen bei der Verhinderung von Wohnungsverlusten, der Beteiligung von Menschen in Wohnungsnot am Arbeitsleben und der medizinischen Versorgung Wohnungsloser“, so Uhrig in München.
Keine Pauschalierung bei den Kosten der Unterkunft – Mietobergrenzen nach verbindlichen Kriterien festlegen
Bei den Aufwendungen für die Betriebs- und Heizkosten der ALG II –Bezieher ist höchstrichterlich klargestellt worden, dass eine Pauschalierung nicht zulässig und die Kosten in der tatsächlichen Höhe zu übernehmen seien. „Wir lehnen die Überlegungen der Bundesregierung zur Pauschalierung der Energie- und Nebenkosten sowie der Kosten der Unterkunft ab.“ Schon jetzt seien die nicht an den örtlichen Mietspiegeln angepassten Mietobergrenzen und pauschale Begrenzungen der Betriebs- und Heizkosten für viele arme Haushalte ein weiterer Einstieg in die Verschuldungsspirale, die letztlich zu Mietrückständen und damit zu Wohnungsverlusten führen könnte.
Winfried Uhrig: „Wir fordern verbindliche Kriterien zur Festlegung der Mietobergrenzen, eine sozialräumliche Differenzierung dieser Mietobergrenzen sowie Einzelfallprüfungen zur Angemessenheit der Miete.“
Besondere Notlagen der Unter-25-Jährigen
Unter-25-Jährige erhalten Leistungen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II nur, wenn der kommunale Träger diese vor Abschluss des Mietvertrages zugesichert hat. Bei vielen dieser jungen Leute in prekären Lebenssituationen, ohne Job und ohne Ausbildung, sind die Auszüge nicht geplant und gut vorbereitet; oft fliehen sie vor unhaltbaren häuslichen Verhältnissen oder werden von den Eltern vor die Tür gesetzt. Viele landen in außerordentlich prekären und nicht selten von Gewalt und Missbrauch geprägten Lebenssituationen. „Wir erwarten ein Ende des staatlich festgelegten Auszugsverbots für junge Frauen und Männer, die weder über gut situierte Eltern noch über einen Arbeitsplatz verfügen!“ so Uhrig.
Zwei-Klassemedizin schon Realität
Auch wohnungslose Patienten müssen Praxisgebühren und Zuzahlungen bei Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln leisten. So sind die medizinische Versorgung dieser Patienten und ihr gesundheitlicher Zustand denkbar schlecht. Die Lage kann offensichtlich nur dann etwas entschärft werden, wenn es vor Ort ein niedrigschwelliges medizinisches Versorgungsangebot für Wohnungslose gibt oder die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe für ihre Klientinnen und Klienten Praxisgebühren und weitere Kosten übernehmen. „Die sog. Reformen der letzten Jahre haben nicht nur den Zugang zur Gesundheitsversorgung für Wohnungslose weiter erschwert, sondern führen geradewegs in eine Zwei-Klassenmedizin: Eine immer größer werdende Zahl armer Patientinnen und Patienten kann sich einen normalen Arztbesuch mit Praxisgebühren oder ein kostenpflichtiges Arzneimittel aus der Apotheke nicht mehr leisten“, sagte Uhrig. Die BAG Wohnungslosenhilfe e.V. fordert die Wiedereinführung der Befreiung von Zuzahlungen und Praxisgebühren für Bezieher und Bezieherinnen von SGB II - und XII – Leistungen sowie eine reguläre Finanzierung der niedrigschwelligen medizinischen Projekte für Wohnungslose durch Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigungen und Kommunen, denn die Projekte können nicht auf Dauer von Spenden und dem Engagement freier Träger existieren.
Teilhabe am Arbeitsmarkt für Menschen in Wohnungsnot und Armut
Vor dem Hintergrund der schon lange andauernden und durch die Weltwirtschaftskrise sich verschärfenden Krise des Arbeitsmarktes fordert die BAG W von Politik und Verwaltung eine umfassende „Reform der Reform“, die sich an der Sicherung des Zugangs aller Menschen – auch der wohnungslosen und von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen - zum Arbeitsmarkt orientiert. Der klassische Zirkel „Ohne Arbeit, keine Wohnung - ohne Wohnung, keine Arbeit“ müsse durchbrochen werden. Ziel einer sozialen Arbeitsmarktpolitik müsse sein, den Lebensunterhalt über Erwerbsarbeit zu sichern. Die BAG W fordert die Politik deshalb auf, bundesweite Existenz sichernde Mindestlöhne - wie in der Mehrheit (20 von 27) der EU-Staaten - festzulegen, um den Fahrstuhl in das Prekariat nicht Existenz sichernder Löhne anzuhalten. „Wir halten die Schaffung von Integrationsbetrieben für sinnvoll. Der Gesetzgeber sollte einen gesetzlichen Rahmen für gemeinnützige Sozialunternehmen schaffen, der die besonderen Bedingungen der sozialen Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt berücksichtigt“, erklärte Winfried Uhrig. Generell sollte die öffentlich geförderte Beschäftigung konsequent auf die Reintegration der vom Arbeitsmarkt ausgeschlossenen Gruppen - unter Einschluss der Wohnungslosen - so ausgerichtet werden, dass über Quoten, die dem Anteil dieser Gruppen an den Langzeitarbeitslosen entsprechen, Fördermittel (der Bundesagentur für Arbeit ) vergeben werden.
Reform der Mindestsicherungssysteme: Regelsätze erhöhen und Kooperation sicherstellen
Die Umsetzung der Arbeitsmarktreformen habe neue Hürden für die Hilfe für Wohnungslose aufgebaut. Diese lägen in der unzureichenden Höhe der Regelleistung, der schlechten Kooperation zwischen Kommunen und Arbeitsagenturen und der fehlenden Abstimmung unterschiedlicher sozialer Leistungen. „Die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II und SGB XII reicht nicht aus, um den Bedarf des täglichen Lebens zu decken. Steigende Lebenshaltungskosten und Energiepreise sowie vermehrte Eigenzuzahlungen im Gesundheitsbereich tragen ihr Übriges dazu bei, dass die Zahl der Haushalte in prekären Einkommenslagen sprunghaft zunimmt,“ erklärte Thomas Specht, Geschäftsführer der BAG W. „Wir wollen, dass der Regelsatz anhand eines aussagefähigen Statistikmodells ermittelt wird, welches sich nicht nur an niedrigen Einkommen orientiert, sondern auch die tatsächlichen Verbrauchskosten berücksichtigt.“
Keine Wohnungslosenstatistik in Deutschland
In Deutschland gibt es keine bundeseinheitliche Wohnungsnotfall-Berichterstattung, deswegen legt die BAG Wohnungslosenhilfe wie jedes Jahr ihre Schätzung zur Zahl der Wohnungslosen vor.
2008 betrug die Zahl dieser Wohnungsnotfälle insgesamt ca. 330.000 (2007: 350.000). Davon gehörten ca. 227.000 (2007: 242.000) zu den Wohnungslosen und ca. 103.000 (2007: 108.000) zu den von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen
Ausmaß der Wohnungslosigkeit 2008
Die Gesamtzahl der in Deutschland wohnungslos gewordenen Menschen ist von 2007 auf 2008 um 6% gesunken (2007: 242.000; 2008: 227.000). Die Wohnungslosigkeit alleinstehender Menschen (2007: 139.000; 2008: 132.000) hat sich mit 5 % etwas weniger abgeschwächt als die Wohnungslosigkeit der Mehrpersonenhaushalte.
Ca. 20.000 Menschen leben ohne jede Unterkunft auf der Straße (2007: ca. 21.000).
Bezogen auf die Gesamtgruppe der im Jahr 2008 Wohnungslosen (223.000) schätzt die BAG W den Frauenanteil unter den Wohnungslosen (ohne Aussiedler) auf insgesamt 25 %, das sind ca. 56.000 Frauen, die Zahl der Kinder und Jugendlichen auf ca. 11% (24.000 Personen) und die Zahl der Männer auf ca. 64% (142.000 Personen).
Der Frauenanteil unter den ca. 132.000 Einpersonenhaushalten oder sog. alleinstehenden Wohnungslosen liegt nach unserer Schätzung bei ca. 26 %.
Die Dienste der Wohnungslosenhilfe betreuten 2008 ca. 100.000 Menschen aus diesem Bereich.
Ausmaß der von Wohnungslosigkeit Bedrohten 2008
Zu viele Menschen sind vom Wohnungsverlust unmittelbar bedroht: Nach Schätzung der BAG W sind dies 2008 ca. 103.000 Menschen (2007:108.000) bzw. ca. 53.000 Haushalte. Die Dienste der frei-gemeinnützigen Wohnungslosenhilfe betreuten 2008 ca. 30.000 Personen aus diesem Bereich.
Erfolge nicht gefährden
Die rückläufige Entwicklung bei den Menschen ohne Wohnung sei in erster Linie auf einen Wohnungsmarkt zurückzuführen, auf dem aufgrund stagnierender Bevölkerungsentwicklung weniger Nachfrager auftreten, erklärte Thomas Specht. Allerdings nehme im Bereich der Kleinwohnungen die Nachfrage aufgrund der fortlaufend steigenden Zahl von Einzel- und Paarhaushalten zu und führe schon in einigen großstädtischen Regionen zu Engpässen.
Specht: „Einen entscheidenden Beitrag zu rückläufigen Wohnungslosenzahlen leisten die Präventionsbemühungen der Kommunen und die Integrationsleistungen der Wohnungslosenhilfe, die mit 1200 Diensten bundesweit Hilfen zur Überwindung von Armut und Wohnungslosigkeit anbietet. Die Wohnungslosenzahlen können nur weiter stabil gehalten oder gesenkt werden, wenn Wohnungslosenhilfe und die Kommunen ihre Anstrengungen bei der Überwindung und Prävention von Wohnungslosigkeit aufrechterhalten und weiter ausbauen.“
Bei der geplanten Neugestaltung der Kooperation von Kommunen und Arbeitsagenturen müsse die Bundesregierung sicherstellen, dass im Bereich der Beseitigung von Wohnungslosigkeit und der Prävention von Wohnungsverlusten übergreifende Zuständigkeiten festgeschrieben werden. Specht: „Wir warnen vor der Fortsetzung der durch die Politik bisher betriebenen Verunsicherung der Arbeits- und Sozialverwaltungen durch permanente fach- und praxisfremde Verwaltungsumorganisationen vom grünen Tisch!“ Zudem müssten die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Wohnkostenübernahme und des Mieterschutzes erhalten bleiben. Sollten die Kündigungsfristen – wie im Koalitionsvertrag verankert – generell auf drei Monate gesenkt und die Kosten der Unterkunft sowie der Mietnebenkosten im Rahmen von Hartz IV pauschaliert werden, sei ein Ansteigen der Zahl von Wohnungslosigkeit bedrohter Menschen bzw. wohnungsloser Menschen nicht auszuschließen.
Bielefeld, den 18.11.2009
PRM_2009_11_18_Sparhaushalt.pdf