Gewalt gegen wohnungslose Menschen

Gewalt gegen Wohnungslose ist leider immer noch Alltag. Vor allem jene Menschen, die ohne Unterkunft auf der Straße leben und somit über keinen privaten Rückzugsraum verfügen, werden immer wieder Opfer von menschenverachtenden Angriffen. Sie werden bedroht, erniedrigt, erpresst, geschlagen und getreten, vergewaltigt, im Schlaf angezündet, gefoltert und ermordet.

Die BAG W dokumentiert seit 1989 entsprechende Straftaten mittels einer systematischen Presseanalyse. Mehr als 2.200 Fälle umfasst heute die Gewaltstatistik – 565 davon mit tödlichem Ausgang (Stand: 29.04.2020). Diese Zahlen sind schockierend. Gleichzeitig ist klar, dass die Dokumentation der BAG W nur die Spitze des Eisbergs zeigt. Ein Großteil der Taten wird überhaupt nicht öffentlich. Viele werden aufgrund von fehlendem Vertrauen in die Ermittlungsbehörden oder aus Angst vor der Rache der TäterInnen gar nicht erst zur Anzeige gebracht. Medien berichten zudem nur über ausgewählte – meistens über besonders brutale oder absurde – Fälle. Nach einer kurzen Welle der öffentlichen Empörung verhallen dann schnell die Forderungen nach Aufklärung, Zivilcourage und Schutzräumen in der hohen Taktfolge der sensationsorientierten Berichterstattung. Zurück bleiben die Opfer, deren Angehörige, Freunde und Bekannte sowie alle wohnungslose Menschen, in dem Wissen, dass sie nahezu immer und überall angegriffen, verletzt und getötet werden können. Eben diese permanente und omnipräsente Gefahr zermürbt viele Betroffene dauerhaft, zwingt sie (v. a. schutzsuchende Frauen) in gefährliche Abhängigkeitsverhältnisse oder zu selbstzerstörerischen Konfliktvermeidungsstrategien und schadet ihnen damit wie die physischen Attacken selbst.

Diese Ausgabe der wohnungslos thematisiert die Gewalt gegen Wohnungslose und nimmt dabei die Gewalt, die von nichtwohnungslosen TäterInnen ausgeht, in den Fokus. Anders als „milieuinterne” Gewalt, die vielfach das Resultat zwischenmenschlicher Konflikte um knappe Ressourcen ist, ist die Motivation für Angriffe von außen vor allem von Vorurteilen, Ablehnung und Hass geprägt. Die Tat richtet sich nicht nur gegen das Opfer selbst, sondern häufig auch gegen die Gruppe, der es angehört oder zugeschrieben wird. Die Abwertung von Armen und Wohnungslosen ist als Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit nachweislich in weiten Teilen unserer Gesellschaft verankert. Lucius Teidelbaum analysiert diese als sozialdarwinistisch bezeichnete Haltung vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse und zieht dabei Verbindungen zur Populärkultur und zum Rechtspopulismus. Daniela Pollich wertet anhand von Ermittlungsakten
von realen Fällen aus, welche Bedeutung die Gelegenheit und das Vorhandensein von Öffentlichkeit für Gewalttaten gegen Wohnungslose haben. Titus Simon befasst sich in seinem Artikel mit der Schnittstelle von Wohnungslosigkeit und Rechtsextremismus. Er geht dabei der Frage nach, inwiefern faschistische und rechtsextreme Ideologien Gewalttaten gegen Wohnungslose in Vergangenheit und Gegenwart präg(t)en, aber auch wie „deutsche” Wohnungslose inzwischen von rechten Kräften gezielt als Fürsorgeobjekt instrumentalisiert und gegen andere, meist migrantische Gruppen ausgespielt werden. Alexander Kolsch hat für das Multikulturelle Zentrum Dessau e. V. eine Broschüre zum Gedenken an den von Neo-Nazis ermordeten wohnungslosen H. J. Sbrzesny erstellt. Er legt dar, warum es besonders wichtig ist, an die Opfer rechtsradikaler Gewalt zu erinnern und gleichzeitig die dahinter stehende politische Einstellung der TäterInnen klar zu benennen. Abschließend  stellt Marc Coester  das aus den USA stammende und inzwischen international weit verbreitete Hate-Crime-Kriminalitätskonzept vor, nach dem Straftaten gegen gesellschaftliche Minderheiten besonders erfasst und geahndet werden. Er zeigt, welche Bedeutung dieser Ansatz für die deutsche Rechtsprechung haben kann und welche Chancen er darin für die soziale Arbeit und insbesondere für die Arbeit mit Wohnungslosen sieht.

Im gesamten Schwerpunktteil finden Sie zudem – gerahmt in grauen Kästchen – einige aus der BAGW-Gewaltdokumentation ausgewählte Kurzbeschreibungen von im vergangenen Jahr erfolgten Angriffen auf wohnungslose Menschen. Sie sollen uns beim Lesen immer wieder in Erinnerung rufen, dass hinter den hier dargelegten z. T. recht theoretischen Überlegungen, Analysen und Konzepten ganz individuelle und oftmals grausame Gewalterfahrungen stecken. Diese Gewalt muss – gerade in Zeiten zunehmend offener Anfeindungen gegen marginalisierte Gruppen – im besonderen Maße öffentliche Aufmerksamkeit, lautstarken Widerspruch und wirksame Gegenwehr erfahren.

Paul Neupert

Fach- und Organisationsreferent, BAG W