Fast genau vor 20 Jahren fand die erste Tagung der AG Medizinische Versorgung Wohnungsloser bei der Ärztekammer Westfalen-Lippe in Münster statt. Grund genug, um einmal Bilanz zu ziehen, sich den kleinen Erfolgen bewusst zu werden, aber auch kritisch zu fragen, warum die Zahl der Menschen, die vom Gesundheitssystem ausgeschlossen sind, weiter stark anwächst. In der aktuellen Ausgabe der wohnungslos wollen wir mit drei Beiträgen der Tagung diesen Gedanken nachgehen und die Empfehlungen der BAG Wohnungslosenhilfe damit unterstreichen.
Am 16. Januar 1998 hat sich in Mainz die bundesweite Arbeitsgemeinschaft „Medizinische Versorgung obdachloser Menschen“ gegründet. Wesentliche Ziele waren die Entwicklung geeigneter Konzepte zur niedrigschwelligen Versorgung, die Anbindung an und Reintegration in die Regelversorgung, Erfahrungsaustausch und Vernetzung, einheitliche Dokumentationsstandards sowie Öffentlichkeitsarbeit. Im Dezember 1991 entstand auf Grundlage einiger Forschungsarbeiten das erste Positionspapier „Krank ohne Wohnung – Empfehlung zur medizinischen Versorgung wohnungsloser Menschen.“
20 Jahre später veröffentlichte die BAG W die Empfehlungen zur „Sicherstellung der medizinischen Versorgung der Menschen in einer Wohnungsnotfallsituation“. Beim genauen Vergleich wird deutlich, dass es viele kleine Fortschritte in den letzten 20 Jahren gab und die Themen mit viel Energie und Engagement vorangetrieben wurden. Aber zentrale Forderungen, wie z.B. ausreichender Krankenversicherungsschutz für alle, Zusammenarbeit unterschiedlicher Professionen, Vernetzung verschiedener Akteure im Gesundheitswesen, Dokumentation- und Berichterstattung, sind immer noch aktuell.
Es gäbe viel zu berichten, hier nur kurz einige Schlaglichter: Die Entwicklung der medizinischen Versorgungssysteme und ihre Auswirkungen auf die Versorgung wohnungsloser Menschen wurden eindrücklich von Anke Follmann, Ärztekammer Westfalen-Lippe, dargelegt. Sie fokussierte sich auf den Fachkräftemangel, die Ökonomisierung und die Digitalisierung (E-Health). Mit diesen veränderten Rahmenbedingungen wird auch die Wohnungslosenhilfe vor zusätzliche Herausforderungen gestellt
Die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen/Bündnis 90, Maria Klein-Schmeink, rief zu konzertierten Aktionen auf, um auf die Situation wohnungsloser Menschen aufmerksam zu machen und unsere Forderungen entsprechend zu transportieren. Das Positionspapier der BAG W „Sicherstellung der medizinischen
Versorgung der Menschen in Wohnungsnotfallsituationen“ wurde von Werena Rosenke, Geschäftsführerin der BAG W, vorgestellt und im Hinblick auf bedarfsgerechtere Behandlungsangebote diskutiert.
Die gesamten Präsentationen der Tagung können auf der Seite der BAG W heruntergeladen werden. Die Vorträge von Rechtsanwalt Uwe Klerks, Br. Prof. Dr. Peter Schiffer und Hilde Schädle-Deininger finden sich in den jeweiligen Beiträgen dieses Schwerpunktes wieder.
Mit dem Beitrag von Rechtsanwalt Uwe Klerks erhalten Sie einen Überblick über die sozialrechtlichen Fragestellungen bei der Gesundheitsversorgung wohnungsloser Menschen. Er stellt fest, dass trotz der rechtlichen Regelungen im Jahre 2007 zu einem umfassenden Krankenversicherungsschutz immer noch 80.000 bis mehrere 100.000 Menschen ohne Krankenversicherungsschutz in Deutschland leben. Die Gründe sind vielfältig, sie reichen von Unkenntnis über den Zugang zum System, Angst vor Beitragsnachforderungen über Schwierigkeiten, frühere Versicherungsverläufe zu rekonstruieren, bis hin zur Unlust der Gerichte, sich „zeitnah“ mit entsprechenden Klagen zu befassen. Ein klares Fazit lässt sich nach den Ausführungen ziehen: Es braucht eine deutliche Erleichterung des Zugangs zum Krankenversicherungsschutz. Eine angefügte Checkliste gibt konkrete Hilfestellung zur Abklärung des Krankenversicherungsstatus.
Gerade das fachliche Know-how von Medizinerinnen und Medizinern, Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern sowie Sozialarbeiterinnen und -arbeitern war es zu verdanken, dass 1991 die damalige Empfehlung in der Gesellschaft platziert werden konnte. Seither ging die Zusammenarbeit mit der Forschung und Wissenschaft etwas verloren. Mit dem Blick aus der Lehre stellt Br. Prof. Dr. Peter Schiffer die Möglichkeiten der interdisziplinären Kooperationen von Medizin, Forschung und Sozialarbeit dar. Er nähert sich dem Thema mit einer Kontextabklärung des Gesundheitssystems und einer Klärung der verwendeten Begrifflichkeiten. Mit „lustvollen“ Anregungen zu interdisziplinären Kooperationen verdeutlicht er die Voraussetzungen, damit es für alle Beteiligten zu einem win-win-Effekt kommen kann. Als Grundvoraussetzung für alle Formen der Kooperation gilt die vertrauensvolle Verständigung; dies wurde auch in dem anschließenden Arbeitsgespräch
auf der Tagung durch die Fachkräfte bestätigt. Unter dem Titel „Den Pflegeberuf in der Wohnungslosenhilfe attraktiv gestalten“ beschreibt Hilde Schädel-Deininger sehr differenziert die unterschiedlichen Anforderungen an die Pflegekräfte in den jeweiligen Tätigkeitsfeldern. Es wird deutlich, dass qualifizierte Pflege in der Wohnungslosenhilfe umfassende Schlüsselqualifikationen und Kompetenzen erfordert. Entsprechende Fort- und Weiterbildungen, Wertschätzung, entsprechende Bezahlung, Stellenbeschreibungen sowie Vernetzung fehlen aus Sicht der Pfl egekräfte. Einig waren sich die Autorin und die Teilnehmenden der Tagung, dass
wenn es um eine Steigerung der Attraktivität des Berufes in der Wohnungslosenhilfe geht, es eine Eigenständigkeit des Arbeitsfeldes braucht. Autonomie und Eigenverantwortlichkeit müssen festgelegt werden. Die stärkere Zusammenarbeit mit anderen Bereichen der Pflege (z.B. psychiatrische Pflege) sollte gesucht und die Arbeit der Wohnungslosenhilfe in Pflegeschulen, auf Kongressen, Aus- und Weiterbildungseinrichtungen, vorgestellt sowie positiv kommuniziert werden.
Den Abschluss der Tagung bildete eine Podiumsdiskussion mit Vertreterinnen der Ärzte der Welt, der Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung und der BAG W. Dabei wurden Forderungen nach bundesweiten Clearingstellen zur Klärung des Krankenversicherungsschutzes mit Härtefonds und ein nationales Förderprogramm zur Umsetzung des Rechts auf Gesundheit deutlich formuliert. Das vereinbarte Ziel: Gemeinsam politisch Zeichen setzen, damit alle Menschen ausreichende medizinische Versorgung erhalten. In diesem Sinne bedanken wir uns bei allen aktiven und passiven Mitwirkenden der Tagung, insbesondere den Autor*innen dieser Ausgabe, für ihre Beiträge und wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen.
Sabine Bösing
Stellvertretende Geschäftsführerin und Fachreferentin für Gesundheit, BAG W, Berlin